Wie wandelt man Elektrizität in Fahrspaß um? Oder anders: Wie entwickelt man ein E-Bike-Motorensystem? Wir haben uns mit Bosch eBike Systems getroffen, um mit Entwicklern, Produktmanagern und CEO Claus Fleischer die spannendsten Bereiche zu beleuchten und euch einen Blick hinter die Kulissen zu liefern. Viel Spaß mit dem ABC der E-Motorenentwicklung!
Pleiten und Erfolge: Der Markt für E-Bike-Motoren beherbergt unzählige Player und wächst kontinuierlich weiter. Es lassen sich jedoch auch Marktakteure finden, die nach einer Pleite das Tummelbecken „E-Bike-Motorenmarkt“ wieder verlassen mussten. Und dann gibt es da noch Bosch eBike Systems: Der Entwickler von E-Bike-Antriebssystemen ist nicht nur ein E-Bike-Pionier, sondern hat den Markt von Grund auf mitgestaltet und die eigene Marktstellung immer weiter ausgebaut. Zur Erfolgsstory von Bosch eBike Systems gehört auch, dass die Schwaben Jahr für Jahr von unseren Lesern mit Abstand zur BEST BRAND in der Kategorie Motoren gewählt werden.
Wenn man sich nun die Frage stellt, welche Faktoren zum Erfolg von Bosch geführt haben, findet man Anhaltspunkte dazu in den Lebenserinnerungen von Robert Bosch. Die inzwischen über ein Jahrhundert alten Memoiren stellen noch heute einen Teil des Leitbilds des gesamten Bosch-Konzerns dar. Zum Thema Wettbewerb schrieb der Firmengründer: „Meiner Erfahrung gemäß gibt es nichts Schlimmeres für ein Werk, das auf die Dauer bestehen und fortschrittlich bleiben will, als keinen Wettbewerber zu haben.“ Damit behält Robert Bosch auch einhundert Jahre nach dem Verfassen der Memoiren Recht. Doch es steckt bestimmt noch mehr dahinter als der Wettbewerb, der das eigene Geschäft belebt. Um einen tieferen Einblick zu bekommen, was hinter dem Erfolgsrezept steckt, sind wir nach Reutlingen in das Headquarter von Bosch eBike Systems aufgebrochen und haben mit Experten aus diversen Bereichen der Antriebsentwicklung gesprochen und uns genauer umgesehen.
Das ABC der E-Motorenentwicklung
Unsere Stippvisite des Bosch eCampus verläuft bereits nach den ersten Metern anders als die meisten unserer bisherigen Hausbesuche. Auf die knappe Begrüßung am Empfangstresen folgt ein bürokratischer Akt mit Personalausweiskontrolle, Zutrittsberechtigungsfragen und Fotogenehmigung. Auf dem Programm steht nämlich nicht nur die Besichtigung des Trophäenschranks und der Exponaten-Wand, die die Firmengeschichte schön in Szene setzt, sondern auch was sich hinter den Sicherheitsschleusen bei Bosch befindet. Vollen Zutritt erhalten auch wir nicht, aber immerhin bekommen wir das Entwicklungslabor und den Systemprüfstand, die Teststrecke und einen Konferenzraum zu Gesicht.
Wie bereits eingangs erwähnt, gibt es mittlerweile eine unglaubliche Anzahl an Motorenherstellern und -marken im E-Bike-Kosmos. Doch auch wenn die Markteintrittsbarrieren niedrig erscheinen, gibt es zahlreiche Faktoren, die über Erfolg oder Pleite entscheiden. Wir durchlaufen bei Bosch einmal das volle Programm und suchen die Ansätze für eine erfolgreiche Motorenentwicklung. Erst im Sommer 2023 hat Bosch den neuen Performance Line SX-Motor gelauncht, der auf den ersten Blick nicht der innovativste, schlankeste oder leichteste Motor im Segment ist – aber dennoch zahlreiche Vorteile bietet. Manche sind spezifisch für diesen Motor, wie etwa der Spagat zwischen Minimal-Assist- und Full-Power-Motor, andere hingegen Bosch-typisch. Also, worauf kommt es an? Was ist das ABC der Motorenentwicklung? Wenn es jemanden gibt, der aus ‘E’ mehr machen kann als nur den fünften Buchstaben im Alphabet, dann Bosch.
A wie Analog-Bike
Will man einen E-Bike-Motor entwickeln, sollte man an einem Ankerpunkt ansetzen, den wir alle lieben: das Analog-Bike. Die Liebe zum Biken haben viele von uns noch auf analogen Rädern ohne E-Unterstützung entdeckt. Deshalb muss man erstmal ein paar grundlegende Fragen stellen und beantworten können, um die Anforderungen und Erwartungen aller Bike-Enthusiasten zu verstehen. Was bietet uns ein Analog-Bike, was lieben wir daran? Was kann man durch ein Motorsystem verbessern, welchen individuellen Ansprüchen kann man besser gerecht werden und was darf man durch ein Motorsystem auf keinen Fall verschlechtern?
Neben ehemaligen Analog-Bikern gibt es jedoch noch zahlreiche weitere Zielgruppen, die erst durch den E-Motor auf den Trichter gekommen sind, dass die Fortbewegung auf zwei Rädern eine der schönsten Arten ist, die Welt zu erkunden oder Alltagsmobilität zu erleben. Um auch diese Biker mit ins Boot zu holen, muss man vom Analog-Bike abstrahieren und sich weiterführende Fragen stellen. Was kann der E-Antrieb am Bike ermöglichen, was mit einem reinen Analog-Bike nicht möglich gewesen wäre? Was sind neue Anforderungen, Skills und Bedürfnisse dieser Zielgruppen?
Beim gemeinsamen Blick auf die Exponate der Firmenhistorie mit CEO Claus Fleischer wird der Transformationsprozess vom Analog-Bike zum E-Bike deutlich. Der erste Prototyp aus dem Jahr 2009 war noch ein Analog-Bike von der Stange, das mit einem E-Motor, viel Tüftlergeist und noch mehr Gaffer-Tape und Kabelbindern zu einem „Analog-Bike plus E-Motor“ hochgerüstet wurde. Von dem, was wir heute unter einem modernen E-Bike verstehen, ist es meilenweit entfernt. Mit der Zeit haben Motorensystem-Entwickler und Bike-Hersteller verstanden, dass ein E-Bike mehr ausmacht, als ein am Analog-Bike angeschraubter E-Motor und Akku. Und dass die Bedürfnisse der unterschiedlichen Zielgruppen über die reine Hardware weit hinausgehen. Erst kamen Themen auf wie Power und Qualität, dann die optische wie technische Integration in das Bike für ein besseres Design und Handling. Irgendwann begann dann das Akku-Wettrüsten, in dem eine irrationale Nachfrage nach immer größeren Akku-Kapazitäten angesagt war. Die ging zulasten von Handling, Integration und Gewicht natürlich. Als Gegentrend wuchsen Angebot und Interesse an Light-E-MTBs. Und die Entwicklung geht immer weiter: Connectivity, Usability, Digital Services und Customization sind die Buzzwords der aktuellen Zeit.
Doch damit nicht genug. Das Spektrum einiger Hersteller, allen voran Bosch, reicht mittlerweile vom urbanen Bike und Cargo-Bike über jegliche Trekking- und SUV-Anwendungen, bis hin zu Abenteuermobilen und potenten Race-E-MTBs für die Sekundenjagd bei internationalen Events. Die neueste Schöpfung ist der Bosch Performance Line SX-Motor, der im eigenen Portfolio am nächsten an ein Analog-Bike-Feeling rankommt und wieder neue Bike-Kreationen ermöglichen soll.
B wie Batterie
Weiter im Alphabet geht es mit B wie Batterie. Sobald man sich etwas mehr mit dem Thema auseinandersetzt, weiß man: Batterie ≠ Batterie. Und auch hier kommt es auf weit mehr als die nominale Akku-Kapazität an. Abmessungen, elektrische Leistung, ein cleveres Hitzemanagement und natürlich auch die Zellchemie sind entscheidend – wie wir mit dem Batterie-Experten Dr. Vikram Godbole, Senior Product Manager Batteries & Charger bei Bosch, diskutieren und in spannende Details eintauchen. Schnell merkt man: Vikram hat richtig Ahnung – schließlich befasst er sich mit dem Thema bei Bosch eBike Systems seit 10 Jahren, war davor R&D Scientist in diesem Gebiet und hat auch seine Dissertation über Lithium-Ionen-Batterien verfasst!
Wenn es nach Bosch geht, sollten Motoren und Batterien im Einklang entwickelt werden. Tatsächlich stellt die Herangehensweise von Bosch eher die Ausnahme als die Regel in der E-Bike-Branche dar. Konkurrenten wie z. B. Shimano oder Brose bieten zwar auch eigene Batterien für ihre Motorsysteme an. Sie überlassen aber den Bike-Herstellern die Entscheidung, welche Batterien sie verwenden möchten und erlauben auch den Einsatz von Drittanbieter-Akkus. Das bietet Vor- und Nachteile wie etwa eine breitere Auswahl, aber auch weniger Kontrolle und stärker fragmentierte Motorsysteme. Bosch hingegen entwickelt die Akkus selbst und fängt dazu auf der elementarsten Ebene an: der Zellchemie. Um das Optimum an Leistung und Energiedichte für einen E-Bike-Akku zu erzielen, werden Zellen nicht von der Stange bezogen, sondern nach den Vorgaben von Bosch entwickelt. Besonders beeindruckend waren die Entwicklungssprünge in den Anfangsjahren: So konnte z. B. durch einen höheren Anteil von Nickel die Energiedichte stark gesteigert werden. Der erste E-Bike-Akku von Bosch besaß noch einen Energieinhalt von 288 Wh und war recht klobig. Heute erreicht man mit dem PowerMore Range Extender mit 250 Wh fast die gleiche Kapazität, während der Akku selbst nicht größer ausfällt als eine Trinkflasche.
Natürlich war die positive Entwicklung der Energiedichte nicht nur Bosch vorbehalten, auch die anderen Hersteller konnten immer leichtere, kleinere und leistungsstärkere Akkus vorweisen. Laut den Experten von Bosch ist mit der aktuellen Lithium-Ionen-Technologie jedoch bald das Ende der Fahnenstange erreicht und es müssen neue Batterie-Technologien her. Für kleine und leichte Akkus können Hitzeentwicklung und thermische Stabilität zum Flaschenhals für die Leistung des E-Motorsystems werden, das gilt auch für die Motoren. Gerade bei Motorsystemen von Light-E-Bikes verteilt sich eine verhältnismäßig hohe Last auf kleine und leichtere Bauteile im Motor und auf weniger Zellen im Akku. Darum liegt ein besonderes Augenmerk auf dem Wärmemanagement, das von einem cleveren Batteriemanagementsystem geregelt werden muss. Kommen dann Motor und Batterie noch vom selben Hersteller und sind ihre Leistungsentfaltungen präzise aufeinander abgestimmt, wie es bei Bosch der Fall ist, kann man erahnen, wo die aktuelle Leistungsbenchmark liegt: Der kleine Bosch Performance Line SX-Motor erreicht trotz ca. 2 kg Motorgewicht und einem relativ kleinen 400-Wh-Akku eine Spitzenleistung von bis zu 600 Watt und spielt damit eher in der Liga von Full-Power-Motoren.
Vikram ist nicht nur ein ausgewiesener Batterie-Experte, sondern auch Produktmanager für Akkus und Ladegeräte und nimmt einen weiteren Punkt auf unserer Exkursion über den eCampus vorweg: B wie Baukastenprinzip. Die Dimensionierung des Akkus hat nämlich nicht nur Einfluss auf technische Kennzahlen wie Motorleistung, Reichweite, Langlebigkeit und Ladegeschwindigkeit. Sie beeinflusst auch das komplette Bike-Konzept und -Design. Denn die Größe, das Gewicht und die Form bedingen die Integrierbarkeit ins E-Bike und damit den Schwerpunkt, den Design-Space für Rahmen und Hinterbaukinematiken und im Endeffekt das gesamte Fahrverhalten. Während die erste Generation an E-Bike-Akkus von Bosch hohe Restriktionen im Design mit sich brachte, bietet Bosch in der dritten Motorensystem-Generation, dem smarten System, Akkus in allen Farben (;-)) und Formen an, die zudem noch mit allen Motoren aus dem smarten System kreuzkompatibel sind. So gibt es immer noch externe Akkus wie den PowerPack Frame, die sich schnell und komfortabel entnehmen lassen. Das macht nicht nur für urbane E-Biker Sinn, die das E-Bike nicht am Abstellort laden können und den Akku dafür immer mit reinnehmen müssen. Es ermöglicht auch Konzepte wie das race-orientierte Lapierre Overvolt GLP III, das einen besonders austarierten, zentralen Schwerpunkt besitzt und bei dem sich der Akku unter Zeitdruck bei Rennbedingungen in Sekunden tauschen lässt. Die internen, im Rahmen verbaubaren Akkus wie der CompactTube 400 und die Bosch PowerTubes erreichen Akku-Kapazitäten von 400–750 Wh und bieten so für die meisten Einsatzgebiete die passenden Energiereserven: von kurzer Feierabendrunde bis hin zu langer Tagestour. Für die Ansprüche von Cargo-Bikern und Langstrecken-Entdeckern hat Bosch das DualBattery-System für das smarte System in der Mache, das 2024 an den Start gehen soll. Damit lässt sich die Akku-Kapazität direkt verdoppeln. Doch bereits jetzt lässt sich jede Motor- und Akku-Kombination aus dem Smart System mit dem PowerMore Range Extender mit 250 Wh paaren, um flexibel etwas mehr Reichweite aus dem System herauszukitzeln. Und selbst für City-Bike-Hersteller, die dem Akku am Rahmen keinen speziellen Anbaupunkt widmen, hat Bosch mit dem PowerPack Rack eine Lösung parat: einen Akku, der einfach hinten auf dem Gepäckträger sitzt.
Auf die Frage, was noch fehlt im Batterie-Kosmos bei Bosch, bekommen wir „den Einheitsstecker“ als Antwort zurück. Der steht nicht nur bei E-Bikern, sondern auch bei Herstellern auf der Wunschliste weit oben. Der Gedanke dahinter ist, dass man sich für alle E-Bikes ein Ladegerät teilen kann und auf Touren möglichst nicht mehr auf das eigene Marken- und Motorsystem-spezifische Ladegerät angewiesen ist. Stattdessen greift man auf eine Ladeinfrastruktur, z. B. an Cafés in Bike-Regionen oder in Hütten auf einem Alpencross, auf einen Stecker zu, der mit jedem E-Bike kompatibel ist. Dafür engagiert sich Bosch eBike Systems im CHAdeMO-Konsortium, das bereits im E-Auto-Markt die Standardisierung der Ladeinfrastruktur vorantreibt.
Bei unserer Diskussion über das Baukastenprinzip stoßen Sebastian und Simeon hinzu. Bevor sie uns zum Buchstaben C mitnehmen, möchten sie noch zum Buchstaben B die Bosch-Servicequalität ergänzen. Denn zum guten ABC der E-Motorenentwicklung gehört neben der ganzen Hardware, die vor uns auf dem Tisch ausgebreitet liegt, auch ein umfassendes Service-Netzwerk, das alle Bosch-E-Bikes rund um den Globus am Laufen hält. Dazu zählt neben einer gesicherten Ersatzteil-Versorgung vor allem eine umfassende Händlertrainings. Ein Grund dafür, dass Bosch in unserer jährlichen Leserumfrage im Beliebtheits-Rating immer den Spitzenplatz belegt, liegt mit Sicherheit auch darin, dass man ohne große Schwierigkeiten einen lokalen Ansprechpartner findet. Um das sicherzustellen, betreibt Bosch eBike Systems ein aufwändiges Händlertrainingsprogramm, bei dem alleine in Europa dieses Jahr mehr als 17.000 Trainingsteilnehmer erwartet werden. Dazu kommen 350 Shops in Europa, die mit dem Prädikat Bosch eBike Experts versehen sind und kontinuierlich fortgebildet werden. Außerdem werden spezielle Tools und Software für den Handel entwickelt, wie den CapacityTester, mit dem z. B. der lokale Bikeshop Batterie-Diagnosen durchführen kann, für die man bei anderen Herstellern den Akku oder das gesamte E-Bike erst einschicken müsste. Aktuell gibt es nur wirklich sehr wenige E-Motorenhersteller, die auf regionaler Ebene eine gute Präsenz ausgebaut haben, ganz zu schweigen von der Mammutaufgabe eines globalen Service-Netzwerks.
C wie Control
Für den Buchstaben C müssen wir mehrere Stationen auf dem Bosch eCampus abklappern, erklären uns Sebastian und Simeon. Sie stehen eigentlich weit hinten in der Prozesskette und applizieren die Motorsystem-Software auf die Hardware. C steht dabei im engeren Sinne für Control, weiter gefasst gehören Communication, Configuration, Customization und Collaboration dazu. Wie das zu verstehen ist? Ein guter E-Bike-Motor weiß im besten Fall, was der Biker über ihm treibt. Der Motor erkennt die Fahrsituation und passt seinen Motor-Output dahingehend an. Gleichzeitig muss der Motor erwartbar und adäquat reagieren, damit der oder die Fahrerin keine unerwünschten Überraschungen erlebt. In der ersten Generation der Bosch E-Bike-Systeme gab es nur zwei Pfeiltasten, um zwischen den linearen Fahrmodi von Eco bis Speed hin und her zu wechseln. Alles andere musste über die eigene Kraft auf dem Pedal geregelt werden. Das hat noch funktioniert zu Zeiten, als man eher selten in technisch anspruchsvollem Gelände unterwegs war. Aber die Art, wie man E-MTBs fährt, hat sich weiterentwickelt. Sich dynamisch verändernde Fahrsituationen lassen nur wenig Zeit für eine umständliche Kommunikation zwischen Mensch und Maschine.
Inzwischen hat Bosch bei der Motorabstimmung und Konfigurierbarkeit große Schritte gemacht und führt die E-Bike-Branche mit an. Es existiert nicht nur ein breites Spektrum an Motoren, sondern auch an Abstimmungsoptionen, die je nach Einsatzzweck auf das E-Bike geladen werden können. Für Tourenbiker gibt es z. B. den dynamischen Tour+ Modus, der die Motorleistung stufenlos an die Umweltgegebenheiten und Fahrweise anpasst. In der Ebene ist er auf eine sanfte und akku-schonende Unterstützung ausgelegt, um hohe Reichweiten zu erzielen. Rollt man auf einen Anstieg zu oder wird von einem starken Gegenwind erfasst, registriert der Motor die ansteigende Fahrerleistung und dosiert die eigene Motorleistung überproportional nach, sodass man als Biker ein gleichbleibendes Fahrerlebnis hat, ohne zwischendurch ständig auf Knöpfchen drücken zu müssen. Das Pendant dazu für sportliche Fahrer ist der eMTB-Modus, der die Motorleistung über eine hohe Bandbreite regelt und auf spezielle technische Fahrmanöver wie Anfahren am Berg oder das Überwinden von Stufen abgestimmt ist. Das ermöglicht es dem Biker, die Motorleistung intuitiv zu kontrollieren – auch in kniffligen Situationen, in denen keine Zeit für lange Tastenkombos auf der Remote bleibt. Ein weiteres Beispiel ist der speziell für den Renneinsatz entwickelte Race-Modus, der exklusiv auf dem Bosch Performance Line CX Race-Motor zum Einsatz kommt. Er zeichnet sich durch ein besonders direktes Ansprechverhalten, verbunden mit einer brachialen Kraftentfaltung aus, damit Profis mit einer hohen Bike-Beherrschung keine wertvollen Sekunden auf dem Trail liegen lassen. Die Erfahrungen aus der feinen Motorsensorik lässt Bosch auch in weitere Produkte einfließen und denkt über die Grenzen des reinen Motorsystems hinaus. So hat Bosch in der zweiten Generation des eBike ABS ein trail-taugliches Antiblockiersystem im Programm, dank dessen sowohl E-Bike-Neulinge als auch erfahrene Piloten mehr Kontrolle über das Vorderrad in kritischen Situationen und damit mehr Sicherheit erhalten können.
Trotz der bereits sehr penibel abgestimmten Motorcharakteristik überlässt Bosch die Feinabstimmung dem Biker, denn er ist es letztlich ja, der das Bike fährt. Per eBike Flow-App lassen sich alle Modi nochmals auf die eigenen Bedürfnisse in puncto Leistung und Dynamik individualisieren. Für den Prozess der Basis-Motorabstimmung muss man an fünf Orten ansetzen, wovon sich nur drei auf dem eCampus befinden. Die in den Entwicklerbüros programmierte Software kann zuerst auf dem hauseigenen Prüfstand validiert werden. Ohne zu viele technische Geheimnisse zu verraten, können wir nur so viel sagen: Der Prüfstand bei Bosch ist State of the Art. Er besitzt eine besonders hohe Dynamik bei der Ansteuerung, um auch Rennsituationen zu simulieren, und kann Kraft sowie Leistung an mehreren unterschiedlichen Punkten am Bike abnehmen. Das erlaubt Rückschlüsse auf die Präzision und Leistungsfähigkeit der Soft- und Hardware und ermöglicht darüber hinaus die Qualitätskontrolle. Damit wären wir wieder beim C von Control angelangt. Denn der Prüfstand erlaubt auch einen Dauerbetrieb von morgens bis abends und beschwert sich auch nicht über Überstunden, wenn er die 40-Stunden-Woche bereits am Donnerstagmittag erfüllt hat. Doch so gut der Prüfstand auch sein mag, so kann er doch nicht den Faktor Mensch replizieren. Darum verlassen wir zum ersten Mal den Gebäudekomplex auf dem Campus und begeben uns zur hauseigenen Teststrecke.
Für das Befahren der Teststrecke benötigen die Bosch-Mitarbeiter eine Genehmigung. Und wir einen Haftungsausschluss. Auf der Teststrecke sind unterschiedliche Hindernisse, Anstiege, Fahrbahnbeschaffenheiten und Kurvenradien, sogar mit aufwändigen Holzbauten errichtet worden. Die Teststrecke ist sehr „nett“, bietet aber nicht die Möglichkeit, die wichtigste aller Fahreigenschaften zu testen: den Fahrspaß. Dafür müssten wir den Campus verlassen und die umliegenden Trails unter die Räder bekommen, doch bei 23 weiteren Buchstaben im Alphabet bleibt keine Zeit mehr. Die Entwickler pflegen zudem eine enge Beziehung zu den Profis aus unterschiedlichen E-Bike-Rennserien. So fließt auch das Feedback von Fahrern auf höchstem Niveau in die eigene Entwicklung mit ein.
Im ABC der E-Motorenentwicklung gibt es noch ein weiteres C, hinter das Bosch einen Haken setzt, aber von vielen Konkurrenten übersehen wird: C wie Cooperation und Collaboration. Dass Bike-Hersteller mit Bosch zusammenarbeiten und ihre Anforderungen und Wünsche mitteilen, steht außer Frage. Deswegen haben sich laut Bosch-Angaben über 100 namhafte Hersteller für ein Bosch-Motorensystem entschieden. Mit Collaboration ist jedoch was anderes gemeint, was einer Trendwende bei Bosch eBike Systems gleichkommt. Man möchte nämlich den Herstellern eine breitere Bühne bieten und selbst mehr in den Hintergrund treten. Das bemerkt man als Biker an subtilen Änderungen, z. B. wenn man die eBike Flow-App startet und statt von einem Bosch-Startbildschirm nun von einem Trek- oder Cannondale-Logo begrüßt wird. Bisher hatte Bosch in solchen Dingen stärker den eigenen Daumen drauf und ist dominanter aufgetreten. Die Markenbindung der Kunden fand über den Bosch-Motor statt. In unserer Leserumfrage geben über 40 % aller Befragten an, sie fahren ein E-Bike mit Bosch-Motor und wollen auch im nächsten E-Bike einen solchen. Bosch will mit einem dezenteren Auftritt die Wahrnehmung der Hersteller fördern, was für die Markenbindung der Kunden zur Bike-Brand förderlich ist. Das wiederum erfreut die Hersteller natürlich ganz besonders. Wenn man sich fragt, wie es zu dem Sinneswandel bei Bosch kam, dann landet man wieder bei unserem ersten Gesprächspartner Claus Fleischer.
C wie CEO oder Claus Fleischer
Claus ist seit Juli 2012 Geschäftsleiter bei Bosch eBike Systems, also fast von Anfang an dabei. Im Gespräch merkt man schnell, dass er nicht den Vorstellungen eines klassischen Großkonzern-CEOs mit einem reinen Blick für Umsatz- und Gewinnzahlen entspricht. Er ist selbst passionierter Biker, der gefühlt jede freie Minute auf dem Bike verbringt. Er kennt sich nicht nur minutiös im Bosch E-Bike-Portfolio aus, sondern besitzt ein Gespür für die Anliegen der Biking-Community und hat darüber hinaus ein starkes Faible für den E-Bike-Rennzirkus. Den Erfolg eines Unternehmens kann man natürlich nie nur einer Person zuschreiben, es braucht immer ein starkes Team – und das wusste bereits Firmengründer Robert Bosch. Claus sitzt jedoch an der Schnittstelle der Konzern- und der Bike-Welt, deren Auffassungen manchmal nicht im Einklang sind und immer wieder neu ausbalanciert werden müssen. Die prozessgetriebene Konzernseite, das damit verbundene, hohe Professionalitäts-Level und die starren prozessorientierten Strukturen bekommen wir an jeder Sicherheitsschleuse und Kontrolle zu spüren. Wer Qualität in Serie fertigen will, der braucht diese Prozessgetriebenheit. Doch das sorgt in der lässigen Bike-Branche oftmals für Reibungen. Claus vereint beide Welten und hat z. B. zusammen mit Stefan Schlie das eigene Herzensanliegen „Uphill-Flow“ zum Firmenprojekt erhoben: Fahrspaß, der nicht nur in der Ebene und bergab, sondern auch bergauf begeistern soll. Und das mit großem Erfolg! Dafür entwickelt man nicht nur das passende Motorsystem, sondern engagiert sich vielfältig, etwa auch beim Trail-Bau, um Strecken mit Fahrspaß in alle Richtungen zu realisieren. Dazu gesellen sich noch viel weiteres Engagement und Lobbyarbeit, sei es zum Thema Trail-Legalisierung, E-Race-Sponsoring oder E-Bike-Gesetzgebung, sowohl auf Community- als auch auf Industrie-Ebene. Egal welches Thema man anschneidet, in Claus findet man einen Gesprächspartner auf Augenhöhe, der die gleichen Werte vertritt wie die meisten Biker. Doch bevor unser Gespräch zu sehr ausartet, werden wir von Roumen, Produkt-Experte für die Themen Digitalisierung und Marketing, zum nächsten Buchstaben entführt.
D wie Digital Environment
Roumens Fachgebiet lässt sich nicht so einfach mit einem physischen Ort in Verbindung bringen, sondern spielt sich eher in einem virtuellen Raum ab. Die Rede ist von D wie Digital Environment. Die ersten Bosch E-Bikes sind mitten im digitalen Zeitalter entstanden. Die Möglichkeiten, die die Technik und die digitalen Werkzeuge mit sich bringen, blieben zunächst weitgehend ungenutzt. Connectivity-Features wurden nur als Add-on betrachtet statt als Teil des Produkterlebnisses. Heute weiß man, dass es schon lange nicht mehr nur um das reine Radfahren an sich geht und sich der Fokus von der Hardware immer weiter in Richtung Software verschiebt. Für Roumen ist klar, wer sich heute ein Bike mit einem smarten System von Bosch zulegt, kauft nicht nur die Hardware, sondern auch die Software mit allen zukünftigen Updates und einem breiten Dienstleistungspaket. Das digitale Umfeld wird dabei immer mehr zum Bestandteil des Business-Modells, indem man digitale Zusatzdienstleistungen abonnieren kann.
Das bisherige digitale Bosch E-Bike-Umfeld war ein geschlossener Garten mit strengem Türsteher. Bosch hat sich vorgenommen, die strikte Einlasskontrolle zu lockern und mehr Schnittstellen als Anknüpfpunkte für Services rund ums Bike zu ermöglichen. So sollen nicht nur die bekannten Fitness- und Aktivitätstracking-Anbieter wie Strava, Komoot oder Apple Health den Weg aufs E-Bike finden, sondern auch noch weitere und kleinere Dienstleister folgen. Darüber hinaus hilft ein stark ausgeprägtes digitales Umfeld, die Motorsystem-Entwicklung aus der Perspektive der User-Experience neu zu denken. Für alle Motoren aus dem smarten System bedeutet das zum Beispiel die Fähigkeit von Software-Updates Over-the-Air. Das entlastet nicht nur die Händler. Bosch-Biker sollen sich auch befähigt fühlen, ihr eigenes Bike immer auf dem neuesten Stand zu halten und es um neue Funktionen zu erweitern. Viele Biker staunten sicher nicht schlecht, als nach dem Update im November 2022 die eBike Flow-App im Zusammenspiel mit dem Display Kiox 300 auf einmal eine Navigationsfunktion besaß. Eine weitere Möglichkeit für ein verbessertes Kundenerlebnis ist ein Premium-Service-Paket aus einer Hand. Für das smarte System bedeutet das die Schnittstelle zum Bosch ConnectModule. Das im Bike versteckte Ortungsmodul besitzt eine Diebstahldetektion und Alarmfunktion. Das kann auch der Grundstein für einen Versicherungsschutz mit Wiederbeschaffung-Option werden. Mit dem Flow+ Aboservice hat Bosch bereits einen Diebstahlschutz aus eigener Hand im Programm, der nicht nur als Abschreckung dient, sondern auch ein sicheres Gefühl vermittelt.
E für E-Motoren
Man jagt ein paar Volt und Ampere durch eine Handvoll Drahtwicklungen. Die erzeugen ein Magnetfeld, das mit dem Magnetfeld eines Dauermagneten interagiert. Schwuppdiwupp hat man eine Drehbewegung erzeugt und fertig ist der E-Bike-Motor – oder? Eben nicht. Nach unserer Odyssee über den eCampus sollte inzwischen jedem klar sein: Will man mit Erfolg einen E-Motor entwickeln, muss man alle bisher gesammelten Erkenntnisse von A bis D reflektiert betrachten und in das Motorsystem einfließen lassen. Natürlich zeigen einem die Motorgröße, das Gewicht, das verwendete Material oder die Physik selbst auch Grenzen auf. Diese Grenzen kann man voll ausloten oder sogar versuchen zu umgehen, um immer kleinere, leichtere und gleichzeitig stärkere und robustere Motoren zu entwickeln. Doch darin liegt nicht das Erfolgsrezept. Die Motor-Hardware bildet nur die Basis, das Motorsystem verleiht den Charakter, die Software haucht dem System das Leben ein, und der Service rund um das E-Bike garantiert, dass das Fahrvergnügen auf Dauer anhält.
Stellt man sich jetzt nochmal die Anfangsfrage „Was lieben wir an analogen Bikes?“ aus der Perspektive eines sportlichen Mountainbikers, dann würden Punkte ganz oben auf der Liste stehen wie: cooler minimalistischer Look, geringes Gewicht und agiles Handling, das zu einem natürlichen Fahrfeeling führt oder die direkte Relation zwischen eigener Fahrerleistung und Vortrieb des Bikes. Würde man für diesen Fahrertyp einen artgerechten E-Motor und ein Motorsystem entwickeln, die zusammen nicht zu stark in den Look und das Fahrfeeling eines Analog-Bikes eingreifen, dann würde man vermutlich bei einem Minimal Assist-Motor landen. Ob es zwangsläufig der neue Bosch Performance Line SX Smart System sein muss? Nein, auch andere Eltern haben schöne Kinder, die vielleicht leichter, kompakter und besser integrierbar sind. Aber es gibt viele Gründe, die für Bosch und ihren ganzheitlichen Ansatz in Bosch-Qualität sprechen. Und natürlich die Tatsache, dass der Motor mit seinen 600 Watt Spitzenleistung die Lücke zwischen Minimal-Assist- und Full-Power-Motoren schließt und neue spannende Bike-Konzepte ermöglicht.
Die Weichen für den Erfolg sind gestellt – und egal welchen Hersteller man aktuell fragt – Bosch macht sehr viel richtig. Das mag an E wie die über Jahre gesammelte Erfahrung von Bosch liegen, ein weiterer entscheidender Erfolgsfaktor im ABC der E-Motorenentwicklung. Bosch eBike Systems feierte 2019 das 10-jährige Jubiläum. In Menschenjahren hat man da noch nicht einmal das Alter eines Teenagers erreicht, in E-Bike-Jahren gehört man damit aber bereits zum Urgestein der Branche. 2021 wurde das smarte System präsentiert, die dritte Motorsystem-Generation nach gerade mal 12 Jahren Firmenhistorie. Das zeigt, wie schnell die Entwicklung auf dem E-Bike-Markt voranschreitet und wie hoch der Innovationsdruck ist. Die Art und Weise, wie wir fahren und wofür man ein E-Bike verwendet, entwickelt sich noch. Auch die Bike- und Motorenhersteller müssen sich weiterentwickeln und sogar die Bike Community. Es herrscht noch immer eine zu irrationale Bereitschaft, das Bike mit dem höchsten Drehmoment oder mit dem größten Akku zu kaufen, statt das Gesamtkonzept zu betrachten. Der Bosch SX-Motor ist ein Schritt in Richtung breiterer Diversifizierung, die auf dem Markt dringend benötigt wird. Denn je breiter sich der Markt aufstellt, desto besser können neue Einsatzmöglichkeiten erschlossen werden. Dann wird sich das E-Bike zusammen mit der Art wie wir Rad fahren weiterentwickeln.
E steht auch für Ende. Ende?! Moment, fehlen da nicht noch 21 Buchstaben? Nein. Unser Resümee, das wir nach einem langen Tag auf dem Bosch eCampus ziehen: Eine gelungene E-Motoren-Entwicklung ist zu komplex, um sie mit den uns zur Verfügung stehenden 26 Buchstaben abzubilden. Vielleicht fehlt nur noch F für Fahrspaß und Fazit: Denn wenn der Fahrspaß stimmt, wird das restliche Alphabet überflüssig.
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Words: Rudolf Fischer Photos: Peter Walker