Täglich strömen Kunden in Bike-Shops und wollen alles zu genau einer Modellreihe wissen: Über kaum etwas wird in der Bike-Welt derzeit mehr diskutiert als über die neuen Haibike FLYON-Modelle. Doch was macht ihre Faszination aus?

Redakteur Christoph Bayer (mitte) war zu Besuch im Haibike Design Center in München, um von Ingo Beutner, Head of Engineering, und Benjamin Turck, Head of Industrial Design, mehr über die Entwicklung der FLYON-Bikes zu erfahren

Für Piers Spencer-Phillips, mittlerweile Head of CTG (Color Trim and Graphic) and Communication Design, war es an seinem ersten Arbeitstag bei Haibike im Jahr 2016 ein Rätsel: „Warum steht da, wenn ich das Rad anschalte, Bosch oder Shimano? Warum nicht Haibike?“ Recht hatte er, denn wenn man einen BMW startet, erscheint doch auch nicht der Name des Zulieferers auf dem Display. Was klingt wie eine Banalität, hat mit dem bisherigen Grundsatz der Rad-Industrie zu tun. Bisher war es für Firmen verhältnismäßig einfach, ein Fahrrad zu entwickeln. Alles, was es brauchte, war ein Rahmen; die Komponenten kamen von Zulieferern und wurden einfach montiert und entsprechend abgestimmt. Bei E-Mountainbikes ist das nicht anders, doch statt nur einer Schaltung, Federgabel, Bremse usw. werden eben auch Motor, Akku und Display nach dem Baukasten-System montiert.

EUROBIKE 2018 – mit der Präsentation der neuen FLYON-Modelle hat Haibike eine neue Ära bei E-Mountainbikes eingeläutet

Mit den neuen FLYON-Modellen geht Haibike einen anderen Weg. „FLYON, das bedeutet 100 % Haibike“, erklärt uns Ingo Beutner, Head of Engineering, bei unserem Besuch im Haibike Design Center Munich. Es ging bei der Entwicklung um ein Gesamtsystem, bei dem Schlagworte wie Usability, Connectivity und Design neu gedacht werden sollten. Während mittlerweile fast jeder klassische Mountainbike-Hersteller auch ein E-Mountainbike mit im Programm hat, hat Haibike die nicht motorisierten Räder bis auf sehr wenige günstige Modelle komplett aus dem Programm genommen. Haibike sieht sich als E-Bike-Marke und das verändert auch die Herangehensweise an neue Projekte, wie FLYON beweist.

Der Liebling der Innovationsmanager: Die Blue-Ocean-Strategie

Bisher waren E-Mountainbikes sich grundlegend ähnlich und die meisten Hersteller versuchten, ihr Bike angelehnt an klassische Mountainbikes zu designen. Die größte Anerkennung gibt es in der Core-Szene bzw. Industrie, wenn ein E-Mountainbike ein möglichst natürliches, „unmotorisiertes“ Handling besitzt. In diesem Segment ist die Leistung des Motors nur zweitrangig und pure Kraft wird nie als echter Vorteil kommuniziert – und genau das ist der Bereich, in dem fast alle Hersteller miteinander konkurrieren. Die beiden Wirtschaftswissenschaftler Renée Mauborgne und W. Chan Kim haben eine Methode entwickelt, um profitable Geschäftsmodelle zu entwerfen: die Blue-Ocean-Strategie. In diesem Konzept gälte der klassische E-Bike-Markt mit seinem Streben nach „unmotorisiertem“ Handling als rotes, blutiges Haifischbecken, in dem sich so viel Konkurrenz tummelt, dass man kaum auffallen kann. Haibike segelt mit den FLYON-Bikes dagegen auf einen neuen blauen Ozean hinaus, in dem es kaum Konkurrenz gibt. Hier wollen sie sich mit Design, Motorleistung, Fahrgefühl, Connectivity, Integration und Usability einen Namen machen.

FLYON, das heißt 100 % Haibike. Deshalb hat der Hersteller viele elementare Bauteile selbst entwickelt.

Die Haibike FLYON-Bikes sind Sportwagen und Pick-up zugleich

Bislang wurde dem Thema Kraft bei E-Mountainbikes nie wirklich Bedeutung geschenkt – allerdings gab es auch wenig Unterscheidungspotenzial, weil immer die gleichen Motoren verbaut waren. Dabei ist mehr Kraft doch in vielen Aspekten des täglichen Lebens etwas sehr Positives. Bei Autos sorgt mehr Power meist für mehr Fahrspaß (Sportwagen) oder schafft die Möglichkeit, größere Dinge zu bewegen (Pick-up). Mit einem Drehmoment von satten 120 Nm ist der Motor der FLYON-Bikes rund 25 % stärker als die gängigen Motoren der Konkurrenz, und das spürt man auf dem Trail deutlich. Doch mehr Kraft bedeutet nicht nur mehr Akku-Verbrauch, sondern auch mehr Gewicht – die Physik lässt sich hier nicht austricksen. Allzu oft kann man das Bike also nicht hochheben, und vielleicht sind die mehr als 25 kg Gesamtgewicht auch deshalb für die meisten Betrachter auf den ersten Blick viel zu viel. Dabei ist das Gewicht nicht mehr als eine Zahl auf dem Papier. Über das eigentliche Fahrverhalten sagt sie nichts aus. Ein Porsche ist ja auch schwerer als ein Fiat 500 – sportlicher ist er aber trotzdem. Das Team von Haibike wollte das Gewicht im Gelände zur Nebensache werden zu lassen und hat dafür an vielen Stellschrauben gedreht, z. B. an der Motor-Charakteristik, dem Anti-Squat und der Geometrie. Denn wichtiger als das Gewicht ist seine Verteilung, wie auch unser erster Test belegt.

Die Aufgabe für das Design-Team: Die Kraft muss sichtbar werden

Wie anders die FLYON-Bikes im Vergleich zur Konkurrenz sind, sollte aufgrund der Propotionen und der Designsprache schon auf den ersten Blick klar werden. Offensichtlich war es den Entwicklern beim Design des Bikes wichtig nicht nur den Look der Marke Haibike zu transportieren und weiter zu schärfen, sondern auch die Kraft des Bikes zu unterstreichen. Erreicht wurde das z. B. dadurch, dass der Motor in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wurde. Er ist super integriert und gleichzeitig ein echter Blickfang. Elemente wie das Speichen-Design am von Haibike entwickelten Kühlerdeckel werden an anderen Orten wie dem Kettenblatt oder der Lampe wieder aufgegriffen. Apropos Lampe: Die eigens entwickelte Leuchte mit spezieller Anordnung der LEDs gibt dem Rad von vorn eine ganz eigene Lichtsignatur.

Der Motor ist Herzstück und zugleich Design-Element. Durch das Speichendesign rückt er optisch in den Fokus.
Das Speichendesign wird auch an anderen Stellen fortgeführt, z. B. am Kettenblatt oder an der Skybeamer-Lampe
Front- und Rücklicht…
…verleihen dem Rad eine ganz eigene Licht-Signatur

Besondere Design-Elemente der FLYON Bikes

  • der Motor ist das Herzstück und wird optisch durch ein eigens entwickeltes Cover hervorgehoben
  • das Speichen-Design wird mehrfach im Bike wieder aufgegriffen
  • alle Querschnitte sind positiv überspannt – das verleiht dem Rahmen optisch mehr Kraft
  • trotz großem Volumen wirkt das kantige Unterrohr sehr schlank
  • die Haibike-Design-Elemente wie der Doppelknick im Oberrohr wurden weitergeführt
  • die eigene Lichtsignatur am Frontlicht sorgt für hohen Wiedererkennungseffekt
  • das Steuerrohr erhält einen eigenen Look und trägt zur Wiedererkennung der Haibike-Räder bei

Neue Möglichkeiten erkennen und umsetzen

Die Power der FLYON-Bikes sorgt nicht nur für ein neues Level an Fahrspaß, sie schafft gleichzeitig im Alltag völlig neue Möglichkeiten. Allerdings muss man dieses Potenzial auch erkennen und dann umzusetzen. Mit seinem kraftvollen Motor ist das Rad dazu prädestiniert, einen Anhänger zu ziehen, warum also nicht direkt eine Aufnahme in den Rahmen integrieren? Sie ist schick versteckt, wenn man sie nicht benötigt, super praktisch für jeden, der darauf zurückgreifen will. Wenn ohnehin massig Strom für den Motor vorhanden ist, warum nicht mit einem Licht die Usability und Sicherheit erhöhen? Darum verfügen die Topmodelle des XDURO Nduro und des XDURO AllMtn serienmäßig über den 5.000 Lumen starken Skybeamer in Front bzw. die beiden Tail-Light-Rücklichter. Bei allen anderen Modellen kann das Licht sehr einfach nachgerüstet werden – die nötigen Kabel liegen bereits im Rahmen bereit.

Die größten technischen Highlights der neuen FLYON-Bikes im Überblick

  • komplett neu entwickelter Carbonrahmen mit hoher Steifigkeit und moderner Geometrie
  • eigens entwickeltes Motor-Gehäuse sorgt für optimale Kühlung und einen eigenständigen Look
  • eigens entwickeltes Kettenblatt für optimale Kraftübertragung
  • die Haibike-Remote soll eine intuitive Bedienung des Motors ermöglichen
  • komplett selbst entwickeltes Farbdisplay mit eigener Menüführung
  • Speed-Sensor-Disc für optimale Kontrolle des Motors und als Sicherheit gegen Tuning
  • super starkes Skybeamer-Frontlicht
  • Twin Tail-Lights am Heck entsprechen der StVZO
  • Modular-Rail-System am Unterrohr erleichtert die Montage eines Flaschenhalters oder Werkzeugs
  • integrierte Weber-Kupplung für die direkte Montage eines Anhängers
Nicht nur mehr Performance, sondern auch mehr Sicherheit gegen Tuning erreicht Haibike mit dem selbst entwickelten Speed-Sensor.
Viel gelernt: Bei der Entwicklung der eigenen Remote-Einheit hat Haibike viele Erfahrungen gemacht, die nun auch bei zukünftigen Projekten genutzt werden können.

Vom Rahmenhersteller zum Fahrzeugbauer

Die wohl größte Besonderheit der FLYON-Bikes ist, dass Haibike nun nicht mehr nur Rahmen designt und einen fertigen Motor, Akku und ein Display verbaut. Stattdessen entwickelt Haibike diese Teile in Zusammenarbeit mit Partnern wie dem deutschen Technologie-Unternehmen TQ nun selbst. So wurde extra eine spezielle Remote-Einheit designt, um das ebenfalls komplett selbst entwickelte Display samt eigener Benutzeroberfläche zu bedienen. Sie sieht nicht nur super schick aus und bietet eine Vielzahl an Informationen, sondern lässt sich auch in den nächsten Jahren automatisch updaten und mit neuen Funktionen bespielen. Außerdem hat Haibike ein eigenes Ladegerät zum Schnellladen entwickelt und einen eigenen Akku konfiguriert.

Mit FLYON geht Haibike einen großen Schritt weiter in Richtung Fahrzeughersteller, um dem Kunden so die bestmögliche Nutzer-Experience bieten zu können. Bei der Entwicklung der aktuellen FLYON-Modelle hat sich der Hersteller jede Menge Know-how angeeignet, die er nun auch bei weiteren Entwicklungen nutzen kann. Haibike ist die Pionier-Marke bei E-Mountainbikes und hat die Szene mit FLYON mal wieder enorm gepusht – wir sind gespannt, was in den nächsten Jahren noch so alles kommt! Ach ja, und wenn man die FLYON-Bikes einschaltet, erscheint jetzt auch der Haibike-Schriftzug im Display. So, wie es sich Piers Spencer-Phillips an seinem ersten Arbeitstag 2016 gewünscht hat.

Mehr Informationen findet ihr unter Haibike


Dieser Artikel ist aus E-MOUNTAINBIKE Ausgabe #017

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Words & Photos: Christoph Bayer, Piers Spencer-Phillips, Moritz Dittmar