So viel ungenutztes Potenzial hätten wir uns nicht einmal in unseren flowigsten Träumen vorgestellt. Doch in Sachen E-Mountainbike ist Whistler – das wohl größte Bike-Paradies der Welt – mehr Entwicklungsland als Traumdestination. Dabei bietet das E-MTB dort so viele Vorteile, ganz neue Möglichkeiten und macht Mountainbiken auch sicherer – nicht nur, weil ihr besser vor Bären abhauen könnt!

Mehr als einen verschlafenen Blick würdigt uns Trailhund Khyber nicht. Aufstehen, um sich von uns streicheln zu lassen, kommt erst recht nicht in Frage. Seb – das Herrchen – ist hingegen das genaue Gegenteil und vor lauter Euphorie kaum zu stoppen. Der Grund, warum Robin und ich früh morgens nicht mit Downhill-Bikes in der Liftschlange vom Whistler Bikepark stehen, sondern in Sebs Büro, sind E-Mountainbikes. Ja, auch wir waren von der Idee noch nicht ganz überzeugt, aber Seb ist nicht nur der Global Marketing Director von Santa Cruz Bicycles und Ex-Redakteur, sondern vor allem langjähriger Whistler Local. Und Locals wissen schließlich am besten, was hier abgeht.

Während wir die letzten Tuning-Maßnahmen an unseren E-Mountainbikes vornehmen und Khyber mit seinem Hundeblick uns doch zu Kraul- und Klopfaktionen rumgekriegt hat, fallen uns die unzähligen Landkarten an der Wand auf. Seb erkennt unser Interesse daran direkt und erzählt stolz, wie viel ungenutztes Potenzial in den Bergen rund um Whistler schlummert und was es noch alles zu entdecken gibt. Weitaus mehr, als wir mal eben in ein paar Tagen erleben könnten. Aber auch weitaus mehr, als wir aus eigener Kraft treten würden! Denn der große Vorteil am E-Mountainbiken ist eben, dass man in viel kürzerer Zeit noch mehr Trails erkunden kann. Der Plan packt uns direkt: So könnten wir die Zeit während unserer Kanada-Reise voll ausnutzen und uns von Seb all seine Lieblingslocations zeigen lassen. Auf dem Tagesplan stehen unendliche Natur, ein Wahnsinns-Panorama mit Blick aufs Meer und Trails, bis unsere E-Mountainbikes nur noch rot blinken und die Oberschenkel nichts mehr hergeben.

Die richtig geilen und frischen Trails, den besten Flow und die coolsten und ikonischen Features findet man nicht im Bikepark, sondern auf den unzähligen Trails rund um Whistler – Seb Kemp

Das eigentliche Bike-Paradies ist nicht der Whistler Bikepark!

Let’s get the party started! Während unzählige Bikepark-Besucher in der Liftschlange unter der brennenden Mittagssonne schmoren, haben wir unseren eigenen Lift im Bike – und keine Wartezeiten! Zudem kühlenden Wind und absolute Freiheit! Noch schnell ein weiterer Blick auf die Trail-Map, bevor wir in den kühlen Schatten verschwinden und den ersten Uphill-Trail in Angriff nehmen. Der wurde ganz frisch gebaut, um den Bikern eine Alternative zu den öden Schotterrampen zu bieten. Allerdings hat es nach dem Bau auch schnell Kritik gehagelt, denn der Trail ist verdammt steil und schon mit dem E-Mountainbike eine Herausforderung. Uns freut’s, denn die kleine Challenge päppelt den Uphill zusätzlich auf und man merkt, dass man selbst auf dem E-MTB ins Schwitzen kommt. Einfach entspannt zurücklehnen und auf einer Schotter-Autobahn den Berg hochbeamen lassen? Gibt’s in Whistler nicht. Anlieger, Stufen und das ein oder andere North-Shore-Element, wie man die kanadischen Holzleitern aus den legendären Freeride-Filmen kennt, fordern Aufmerksamkeit und ein gewisses Maß an Fitness. Aber machen unglaublich Spaß!

„Ich check nicht, warum hier nicht alle E-Mountainbikes fahren?“, ruft Robin zu uns runter, während wir uns gefühlt zum hundertsten Mal lachend gegenseitig einholen und der Trail sich immer weiter den Berg hochschraubt. Aber irgendwann endet er und wir kommen am Gipfel an. Wo für die meisten der Spaß erst losgeht, hat sich bei uns schon ein fettes Grinsen ins Gesicht gebrannt und die Vorfreude auf den nächsten Uphill-Trail überschattet fast den genialen Singletrail, der jetzt vor uns liegt.

Trotzdem gönnen wir uns eine kleine Verschnaufpause, das frische Wasser aus dem Bach schreit geradezu danach, die Flaschen zu füllen. Seb erzählt uns dabei, dass die Trails extrem alt sind und ursprünglich von Trial-Motorrad-Fahrern oder der alten Freeride-Szene angelegt wurden. Apropos Freeride: Nur wenige Tage vor unserem Ride mit Seb waren wir mit der Freeride-Legende Wade Simmons am ikonischen North-Shore in Vancouver unterwegs – daher haben die North-Shore-Holzelemente ihren Namen. Unterwegs waren wir dort natürlich auf E-Mountainbikes. Auch Wade hat den Trend für sich entdeckt und feiert es. Denn sowohl an der Shore als auch hier in Whistler gibt es eine Menge zu entdecken. Mit dem E-Mountainbike kommt man in Regionen, die man ohne Motorunterstützung nur schwer erreichen kann. Angeblich schlummert eine Menge alter Pfade und Wanderwege in der Region. Sie werden aber nicht wirklich genutzt, denn die meisten Wanderer, die es nach Whistler verschlägt, tragen nicht einmal richtiges Schuhwerk und kommen hauptsächlich, um ihren Social Media-Account aufzupäppeln. Und das geht auch direkt neben der Gondelstation … aber das ist eine andere Story!

Seb lässt uns auch wissen, dass man hier nicht alle Wege mit dem E-Mountainbike fahren darf. Auch einige der beliebten Trails rund um Whistler haben noch Verbotsschilder – mit einem Clown auf einem E-Bike – angebracht. Schade! In Nordamerika herrscht teilweise noch ein falsches Bild von E-Mountainbikern. Zugleich will man vor allem im hochalpinen Gelände den Verkehr niedriger halten, denn einen Uphill-Trail mit über 1.200 Höhenmetern fahren meist nur die geübten und besser trainierten Biker aus eigener Kraft. Mit dem E-Mountainbike wäre das hingegen kein Problem. Was hier allerdings nicht betrachtet wird, ist der Fakt, dass große Touren mit dem E-Mountainbike meist viel sicherer für alle sind. Denn die körperliche Erschöpfung bergauf ist viel geringer und man kann seine Körner für den anstehenden – und meist sehr technischen – Downhill aufsparen. Gerade im hochalpinen Gelände kommen viele Unfälle und Verletzungen zustande, weil die Leute einfach erschöpft und unkonzentriert unterwegs sind. Es ist schade, dass dieser Aspekt nicht erkannt ist! Aber auch das ändert sich Stück für Stück, erzählt Seb. Das Interesse an E-MTBs wächst deutlich, man erkennt die klaren Vorteile und den Sicherheitsaspekt, zumal viele coole Locals und Opinionleader mittlerweile auf E-Mountainbikes unterwegs sind.

Aber genug philosophiert. Wir sind ja nicht zum Labern hier. Gleich mehrere Trails – sowohl rauf als auch runter – stehen auf dem Plan und Seb erzählt uns beim Losrollen noch, dass einer seiner guten Kumpels den Trail erst vor Kurzem angelegt hat. Auch der hat inzwischen aufs E-Mountainbike gewechselt. Das bringt die Bike-Gruppen wieder zusammen und man kann, egal wie alt oder fit man ist, wieder gemeinsam mit seinen Buddys die Trails erkunden – geil!

Die Angst der Locals!

Inzwischen ist auch unser Kumpel Dave mit von der Partie. Auch er ist langjähriger Whistler-Local und unglaublich fit, allerdings noch nie in seinem Leben auf einem E-Mountainbike gesessen. Das können wir natürlich nicht auf uns sitzen lassen und wollen checken, wie Dave seine altbekannten Hometrails im Turbo-Modus empfindet. Naja, Worte brauchen wir nicht. Schon nach ein paar Runs können wir an Dave’s Gesicht erkennen, was er von E-Mountainbikes denkt und schnell fällt die Frage an uns, was man denn für ein gutes E-Mountainbike ausgeben muss und auf was er achten sollte – ups 😉 . Da wird Dave bestimmt nicht der letzte Local sein, denn das E-Mountainbike-Virus infiziert.

Wie man es von Whistler erwarten würde, geht es auch außerhalb vom Bikepark ordentlich zur Sache, zumal Seb und Dave auf ihren Hometrails ordentlich vorlegen und wir nur schwer mithalten können. Da wären wir wieder beim Sicherheitsaspekt und Robin und ich sind jetzt froh und extrem dankbar, dass wir noch Körner aufgespart haben. Die meisten Höhenmeter stecken nämlich nicht in unseren Beinen, sondern im E-Bike Akku – hehe. Also werden die Bremsen aufgemacht und die Verfolgungsjagd aufgenommen. Knapp 15 Minuten geht es jetzt bergab, und zwar ohne Pause. Fette Rock-Rolls, weicher Waldboden und unglaublich viele Wurzeln, gespickt mit knackigen Gegenanstiegen, bei denen sich sogar unser Motorsystem extra Power wünscht. Unten angekommen wartet direkt der Lost Lake auf uns und kühlt unseren Körper wieder runter. Während wir im und am Wasser rumhängen und die letzten Sonnenstrahlen genießen, schwärmt Seb weiter vom zukünftigen E-Mountainbike-Paradies und listet uns nebenbei noch ein paar Tipps und Tricks für unsere nächsten Wochen in Kanada auf.

Die wichtigsten Tipps und Tricks für‘s E-Mountainbiken in Whistler

  • Die geilste Kombi: morgens mit dem E-Mountainbike auf Entdeckungstour, und nachmittags mit dem Downhill-Bike in den Bikepark. Denn da verschwindet die lange Liftschlange und der Park hat bis 20 Uhr offen.
  • Ohne Liftticket dürft ihr aber die Trails des Bikeparks nicht benutzen, auch wenn euch das E-Mountainbike gemütlich auf den Berg bringt.
  • Wasser könnt ihr prinzipiell aus jedem Bach trinken. Je schneller der fließt und je höher der liegt, desto besser.
  • Bären werdet ihr so oder so sehen, also erzwingt es nicht. Wichtig ist es, immer ausreichend Abstand zu halten.
  • Im Sommer lohnt sich ein Ausflug nach Squamish und Vancouver, denn auch hier gibt es verdammt viele Trails zu entdecken. Pemberton ist zu dieser Zeit meist extrem trocken und entsprechend staubig.
  • Versucht, in Gruppen zu fahren, denn der Handyempfang ist meist schlecht. Drei Personen ist eine geschickte Anzahl, so kann im Notfall eine Hilfe holen, während die andere bei der verletzten Person bleibt.
  • Die ganzen Uphill-Trails kosten natürlich etwas mehr Akku, aber je nach Bike, Gewicht und Fahrweise, schafft ihr locker 1.500 Höhenmeter. Wir hatten sogar ein Light-E-Mountainbike dabei und sind damit ausreichend Trails gefahren.

Wenn ihr noch mehr über Whistler, den Bikepark und die beste Reisevorbereitung wissen wollen, dann solltet ihr unbedingt den ausführlichen Whistler Guide unseres Schwestermagazins ENDURO auschecken.

In Whistler schlummert ein Schatz, von dem viele Locals, Business-Leute und Bike-Mekka-Pilgerer (noch) nicht wissen. Entsprechend wenige E-Mountainbiker trifft man hier. Dabei machen die Uphill-Trails den Eindruck, als ob sie genau dafür gebaut worden sind. E-Mountainbikes machen Biken in Whistler noch spaßiger, sicherer und abwechslungsreicher. Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis E-MTBs Whistler erobern. Und bis dahin genießen diejenigen, die bereits eins besitzen, die Ruhe auf den Trails.


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Words & Photos: Peter Walker

Über den Autor

Peter Walker

Peter ist als technischer Redakteur nicht nur ein Mann der Worte, sondern auch der Taten. Mit ernsthaften Bike- und Schrauber-Skills, seiner Motocross-Historie, diversen EWS-Teilnahmen und über 150 Bikepark-Tagen in Whistler – ja, der Neid der meisten Biker auf diesem Planeten ist ihm gewiss – ist für Peter kein Bike zu kompliziert und kein Trail zu steil. Gravel und Rennrad kann er übrigens auch! Das für unsere redaktionelle Arbeit wichtige Thema Kaufberatung hat Peter in Vancouvers ältestem Bike-Shop von der Pike auf gelernt und setzt sein Know-how auch im journalistischen Alltag um. Wenn er nicht gerade die Stuttgarter Hometrails auf neuen Test-Bikes unsicher macht, genießt er das Vanlife mit seinem selbst ausgebauten VW T5. Dass er dazu noch ausgebildeter Notfallsanitäter ist, beruhigt seine Kollegen bei riskanten Fahrmanövern. Zum Glück mussten wir Peter bislang nie bei seinem Spitznamen „Sani-Peter“ rufen. Wir klopfen auf Holz, dass es dazu auch nie kommen wird!