North Shore Vancouver, Wade Simmons und unsere Bikes auf einem Pickup – mehr braucht es nicht, mehr geht auch nicht. Lasst uns gemeinsam auf eine Reise zu den Trails unserer Träume gehen und die Essenz des Mountainbikens mit einer Legende wiederbeleben.

Kaffee? Kaffee! Wade steht schon in voller Montur und gut gelaunt an der Siebträgermaschine im Rocky Mountain Development Center Vancouver. Fehlt nur noch der Helm. Wir sind gerade erst angekommen und sehen die Zahlen noch doppelt auf der Uhr – Jetlag. In der Küche teilt Wade ein paar liebevolle Seitenhiebe an die Kollegen aus, die mit uns auf den ersten Kaffee warten. Der klassische Biker Buddy Talk, bei dem jeder humorvoll sein Fett wegkriegt. Wir gehen lachend in Deckung. Dann, auf den Brühprozess konzentriert, erklärt er uns lässig über die Schulter den simplen Tagesplan. Austrinken, Bikes auf den für uns Europäer überdimensionalen Toyota-Pickup laden, Abfahrt und Spaß haben. So schnell es nur geht, dahin, wo man frei atmen, frei denken, sich ausleben kann. Ab in den Wald.

Mountain Bike Hall of Fame, New World Disorder Segment Rider, Red Bull Rampage Gewinner, The North Shore Mitbegründer, Freeride Legende. Die Liste ist lang. Wer in unserem Sport tiefer verwurzelt ist, kennt ihn, mag ihn und wurde von ihm wahrscheinlich dazu inspiriert, querbeet Latten durch den Wald zu bauen, um sich danach zu fragen, ob das überhaupt fahrbar ist. Die Rede ist vom Godfather of Freeride: Wade Simmons. Ja, der Typ, der mit uns gerade Kaffee trinkt. Der Kanadier aus Kamloops hat in den 90ern den Grundstein unserer Leidenschaft gelegt, Freeriden definiert und verkörpert noch heute die Seele des Sports.

Während des Koffeinshots werfen wir einen 360° Blick in die heiligen Hallen des Rocky Mountain Development Centers, wo geschichtsträchtige Reliquien auf IKEA-Regalen konservieren. Wir dürfen nicht alles fotografieren, denn zwischen den Zeitstempeln unserer Leidenschaft befindet sich die Zukunft. Neue Rahmen, neue Farben, neue Projekte. Unser Sport steht nicht still, doch dem gegenüber steht die eine wichtige Konstante. Ein Gefühl, das sich nicht ändert. Egal ob Hardtail, Enduro, Downhill oder E-Mountainbike. Es ist ein Gefühl, das wir nicht näher festnageln wollen. Jeder entwickelt in seiner Zeit als Mountainbiker sein ganz eigenes Empfinden von „Glück“. Was für den einen große Drops, Slabs und Doubles sind, ist für den anderen Uphill-Flow und für wieder andere ist es das ganze Drumherum: Freunde, Trips, Abenteuer, Natur. Für uns ist es ein Cocktail all dessen. Wird dieser Cocktail von einem Barkeeper namens Wade Simmons serviert, um so besser. Einsteigen – Abfahrt.

15 Minuten! Mehr braucht man nicht, um aus der Millionenmetropole Vancouver zu einer der Geburtsstätten des Freeride-Mountainbikens zu gelangen. Nur wenige Orte haben die Welt des Bikesports so stark beeinflusst wie die Region um Cypress Mountain, Mount Fromme und Mount Seymour, kurz: die North Shore. Seit jeher ist sie Bühne in unzähligen Freeride-Filmen, für Fotos und Mythen. Hier legte man damals einen der wichtigsten Grundsteine für die Art, wie wir heute mountainbiken. Nicht nur wir, sondern wohl auch die ganze Trailbau-Community, wurde von diesem Ort dazu inspiriert, „The Shore“ im heimischen Wald nachzubauen. Man nagelte Bretter von Baum zu Baum, schaufelte Steine frei und erkundete steile Hänge. Dank der hier gedrehten Filme federten auch wir kurzerhand Monster Ts, trugen Speedy-Sonnenbrillen in Motocross-Helmen, hingen bis zur Dämmerung im Wald. Dabei schoben wir klobige Downhiller den Hang hoch, gaben uns gegenseitig Props für waghalsige Stunts, fühlten uns wie Outlaws gegenüber performance-orientierten Mountainbikern.

We were, where nobody was. In the woods! – Wade Simmons

Hier an der „Shore”, wo man sein Bike mehr als 8 Monate im Jahr über rutschige Wurzeln und doch griffige Rockslaps gen Tal dropt, lernt man, was die Essenz des Freeriding wirklich bedeutet. Es geht nicht um die Bestzeit, sondern um die beste Zeit. Ein Kalenderspruch, den wir oft überblättern.
Beim Anstieg sehen wir schon aus der Distanz verwinkelte Holzbauten, steile Anlieger, Drops. Am Traileinstieg gibt es einen kurzen Fistbump. Dann fährt Wade vor und zeigt, wie man’s macht.

It’s like falling down the trail without hitting the ground… out of control all the time. – Wade Simmons (lachend)

Früher schien es so, als könnten Mountainbikes weltweit nahezu jedes Gelände bewältigen, bis sie an der North Shore und in der umliegenden Gegend schließlich an ihre Grenzen stießen. Es gibt Hersteller, die sich an unzählige zerbrochene Rahmen erinnern, die ausschließlich auf diesen Trails ihr Ende fanden. Es war eine Zeit, in der Pioniere wie Wade den Sport neu definierten, High Fives austauschten, gewagte Road Gaps, Drops und Holzleitern etablierten. Sie filmten ihre Abenteuer, genossen das Leben, rauchten Gras, fuhren in T-Shirts anstelle von Lycra und nahmen alles nicht zu ernst. Wade erinnert sich, wie man damals links und rechts schaute und beim Surfen, Skaten sowie Snowboarden den Spaß und ein Lebensgefühl bevorzugte, beim Biken jedoch nur die Bestzeit zählte. Ihm und seinen Jungs fehlte es im Radsport an Punk und Seele. So entwickelte die Community rund um Wade ein Antidot für einen Sport, der Bestzeiten über Geschicklichkeit, Style und Freiheit favorisierte.

The essence of mountain biking is not competition. Neither on the race track, nor what material. It’s just like hanging out with friends. – Wade Simmons

Dieses Gegenmittel funktioniert noch heute, nur das Material hat sich verändert. Die Erde, auf der wir fahren, aber, bleibt die gleiche. Wir rollen über viel zu hohe Northshores, droppen von Steinkanten und challengen uns selbst mit sketchy Uphills. Das Resultat: Ein breites Grinsen und ein High Five mit einer Legende. Wade schaut nach der Abfahrt an seinem Rocky Mountain Powerplay-E-Mountaibike runter und kommentiert dies mit: „Die Dinger machen so verdammt viel Spaß! Von sowas haben wir früher nur geträumt, als wir die Bikes den Berg hochschoben. Wie geil, dass ich das alles noch erleben darf!“

Wade liebt, wie sich die Grenzen durch sein Powerplay verschieben. Mehr Trails, mehr Fun! Höher, länger, weiter! Während es in Europa kaum noch Diskussionen über E-MTBs gibt, sind Nordamerika und auch die Freeride-Geburtsstätte North Shore noch etwas zurückhaltend. Woran das liegt, kann sich Wade nur damit erklären, dass die Bikes hier auf einigen Up- und Downhills noch nicht zugelassen werden. Trailbauer befürchten, dass die Strecken stärker unter den eher schweren Bikes leiden, Features brechen und Anlieger sich abtragen. Andere wiederum belächeln E-MTBs noch immer und verbinden sie mit Faulheit.

It’s not lazy, it’s motivating. I’ve been riding since 88. It’s like a new passion. You just ride more and more trails. – Wade Simmons

Nach einer langen Abfahrt und mindestens vier „ouhhhh s****“ Momenten mögen die Batterien der Bikes zwar noch halb voll sein, doch unsere eigenen Reserven fast leer. Armpump! Wir schalten runter, rollen Richtung Burger, Pommes und kaltem Bier. Kehren mit Wades zweideutigen Weisheiten zurück zum Ursprung. Wer auf einem Trail die Bestzeit jagt, verpasst womöglich die spaßigsten Sprünge und coole Abzweigungen. Wir nehmen dies in unser Lebensmotto gleich mit auf. Ihm ist es wichtig, den Trail und die Kreativität, die dahintersteckt, wertzuschätzen. „Ride, don’t slide.“ Man soll genießen, was einem hier mit viel Schweiß und unglaublich viel Zeit in den Wald geshaped wurde. Für Wade ist es dabei völlig irrelevant, ob man mit oder ohne Unterstützung Spaß hat.

„Just ride your bike like it’s 1988! – Wade Simmons

Wade hat uns nicht nur auf eine Reise in die Vergangenheit mitgenommen, sondern begleitet uns als Spirit Animal auch in die Zukunft. Ganz egal, ob mit oder ohne E, ob Kanada oder Teutoburger Wald, ob Freeride oder Racing. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch, nur ein Anders. Und das ist auch der Urgedanke des Mountainbikens und des Freeridens: Die Freiheit, so zu fahren, wie man will. Egal wie, egal wo.


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Words: Julian Lemme Photos: Peter Walker, Julian Lemme

Über den Autor

Julian Lemme

Julian hat schon mit Haien den Pazifik erkundet, der Höhenangst im Himalaja die Hand geschüttelt, ein paar Stunden im ältesten Knast Uruguays gesessen und im brasilianischen Regenwald Weltfrieden gefunden. Als digitaler Nomade hat er die halbe Welt bereist und ganz nebenbei die Layouts für unsere Magazine gemacht. Heute ist er schon fast sesshaft geworden und lebt mit seinem Hund Bonnie im sonnigen Lissabon, um dort zu biken, zu surfen und den entspannten Lebensstil zu genießen. Als Art Director haben wir ihm die geilen Layouts und Styles zu verdanken, die unsere Magazine auszeichnen.