„Einmal alles, bitte!“ Warum müssen wir uns eigentlich so oft im Leben entscheiden, warum nehmen wir nicht einfach mal alles mit, was uns der Tag so an Chancen entgegenwirft? UK-Redakteur Trevor hat genau das in Schottland gemacht – und ist dabei zwei völlig unterschiedliche Arten von Wellen geritten.

Langsam blinzelnd öffnete ich meine Augen. Der muffige Geruch war mir sofort vertraut, eine Mischung aus Neopren und Kettenfett. Leere Pizzakartons auf dem Armaturenbrett erinnerten mich an unser ausgewogenes Abendessen von gestern. Ich setzte mich langsam und vorsichtig auf, um nicht gegen die Pedale und Ketten überall um mich herum zu rempeln, denn ich befand mich im Laderaum eines vollgestopften Sprinters, eingepfercht zwischen drei Bikes. Ein Lichtstrahl fiel durch die Türritze und ließ mich wissen, dass die Dämmerung bereits begonnen hatte. An den Schnarchgeräuschen von draußen konnte ich erkennen, dass meine Kumpels noch fest schliefen, doch im Hintergrund war das Rauschen der Wellen deutlich zu vernehmen. Mein Körper bettelte um noch eine halbe Stunde Schlaf, doch es war schon spät. Da waren Wellen, die geritten werden wollten – ich musste raus!

  Unser Nachtquartier war alles andere als glamourös – keine Betten, keine Dusche, kein Schnickschnack. Einfach nur drei Typen in einem Van voller Bikes und Surfbretter.

Einer nach dem anderen kam der Rest der Crew zum Vorschein, mit verquollenen Augen, die Kapuzen zum Schutz gegen die kalte Morgenluft tief ins Gesicht gezogen. Die Sonne war noch nicht ganz draußen und wir versprühten die Art von Humor, die nur eine zutiefst unerholsame Nacht hervorbringt. Wir brauchten Koffein, und das schnell. Überraschung! Die Betreiberin des Strandcafés ließ vor Schreck fast ihren Wischmopp fallen, als sie um 8 das Licht anmachte und uns drei sah, die Gesichter an die Fensterscheiben gepresst wie ausgehungerte Hunde vor einer Metzgerei. „Könnten wir vielleicht einen Kaffee bekommen?“, flehten wir, und versuchten, dabei nicht auszusehen wie Obdachlose. „Tut mir leid, wir öffnen erst um halb 10.“ Die Antwort traf uns wie ein Schlag. Doch unsere niedergeschmetterten Gesichter müssen wohl das Herz unserer Retterin erweicht haben, denn keine 5 Minuten später saßen wir drin im Warmen zwischen hochgestellten Stühlen und verspeisten ein fürstliches Frühstück, während die Kaffeemaschine im Hintergrund ihre Frühschicht begann.

Wir befanden uns in Angus an der schottischen Ostküste. Eigentlich war unser Plan für diesen Tag simpel gewesen – Mountainbiken in den Bergen. Doch Mutter Natur hielt eine Überraschung für uns bereit: Hunderte von Kilometer entfernt über der Nordsee waren die Wettersysteme aufeinander geprallt, die Isobaren hatten die Schwerter gekreuzt und direkt unter der Wasseroberfläche marschierte leise ein mächtiger Swell Richtung Küste, bereit, sich an diesem Strand zu entladen, nur einen Katzensprung von uns entfernt. „1,2 m, 12 Sekunden.“ Nur ein paar Zahlen, aber für uns bedeuteten sie die reine Freude. Die langen Fetches und gleichmäßigen Wellen Hawaiis oder Indonesiens sind schottischen Surfern nicht vergönnt, aber wir machen das Beste aus dem, was da ist. Gewappnet mit Ganzkörper-Wetsuits, Kapuzen und Handschuhen nehmen wir hier an der rauen schottischen Küste alles mit, was wir kriegen können. Für uns gehen Mountainbiken und Surfen Hand in Hand, es sind einfach zwei verschiedene Arten, sich eine Dosis Adrenalin zu besorgen. Wir hatten aber nur einen Tag Zeit und hätten uns normalerweise gefühlt wie eine Mutter, die entscheiden muss, welches ihrer Kinder sie lieber hat. Doch wir hatten noch ein Ass im Ärmel – wir hatten E-Bikes, wir konnten beides machen.

Gestärkt, in Neopren gehüllt und so wenig frierend, wie es in der Nordsee eben geht, schaukelten wir auf dem Wasser, kleine Punkte in der endlosen Weite des Meeres. Draußen hinter der Surflinie genossen wir die besinnliche Ruhe und holten verpasste Unterhaltungen nach. Währenddessen glitten unter uns die Wellen leise dahin und die Stille wurde nur durchbrochen von vibrierenden Sekunden explosiver Urgewalt, wenn wir uns auf einen kurzen Ritt vom Swell mitreißen ließen. Die Gischt zischte und blubberte unter uns, wenn wir Richtung Strand glitten und uns dann durch den Shorebreak zurückwühlten. Nach einigen Stunden Kampf gegen unsere dicken Neoprenanzüge waren wir mit den Kräften am Ende, doch der Tag war noch lange nicht vorbei.

Nur wenige Stunden später ritten wir auf einer völlig anderen Art von Welle, auf Wellen der Tretkraftunterstützung. Der Schotter schoss unter unseren Reifen weg, als wir geschwind in den verwilderten Garten im Hinterhof der Queen hinein jagten, in die 20.000 Hektar Ländereien, die zu Balmoral Castle gehören. Unser Plan war, von Glen Clova aus den Broad Cairn hochzufahren und dann die schnelle Abfahrt nach Loch Muick über den berühmten Corrie-Chase-Trail zu nehmen, einen Singletrail wie aus dem Bilderbuch. Unsere Route sollte anschließend am Ufer entlangführen, am königlichen Bootshaus vorbei, und dann wieder ansteigen auf den Capel Mounth. Münden sollte sie schließlich in einer grasbedeckten Abfahrt zurück zum Auto, 26 km feinster schottischer Berggenuss. Doch die Zeit war knapp, wir waren einfach zu lange surfen gewesen.

  Kurz überlegte ich, ob wir in Balmoral mit unserem Charme ebenfalls eine Chance hätten und vielleicht mit der Queen eine Tasse Tee trinken könnten, doch ich entschied mich dagegen. Ich mag Corgis eh nicht wirklich.

Der Nebel sank herab und wir jagten dem schwindenden Tageslicht hinterher, wechselten vom Eco- in den Sport-Modus, pedalierten mit aller Kraft das Glen Clova Valley hoch, heizten wie ein Schnellzug eng hintereinander durch die technischen Abschnitte. Wir kannten die Strecke, waren sie oft auf Bikes ohne Motorunterstützung gefahren, und es war erstaunlich, wie viel schneller wir waren. Nicht nur, dass wir unser Ziel überhaupt erreichen würden, wir hatten sogar noch die Energie, um zu quatschen und uns gegenseitig zu beleidigen – oft sind das ja die bedeutungsvollsten Gespräche. Wir unterhielten uns über all die negativen Kommentare zum Thema E-MTBs und die Ansichten der Tastaturen-Ritter, dass man „den Bezug zur Umwelt verliere“ und E-MTBs „für alpines Fahren ungeeignet“ seien, und all diese Meinungen erschienen uns absolut abwegig, während wir das Gebirgspanorama in uns aufsogen und uns leise an eine Herde verwirrten Rotwilds heranschlichen. Wir störten die Umwelt nicht durch mehr als das Geräusch unserer Reifen auf dem Schotter. Gelegentlich platzte ein überraschtes Moorhuhn aus dem Heidekraut heraus, denn 25 km/h, das hatte es hier wohl noch nicht gegeben.

Wir heizten Richtung Auto, die Dunkelheit dicht auf unseren Fersen und mit rot blinkenden Akkus, doch wir würden es schaffen. Als wir die Ebene erreichten, blieb erst einer zurück, dann der zweite, die Batterien hatten ihr letztes Watt ausgehaucht. Wir hakten uns ein, das letzte einsame E-MTB mit Restladung half, die schwer mitgenommene Kompanie ins Ziel zu schleppen. Wir platzierten unsere matschigen Hintern auf den vorsorglich auf den Sitzen ausgebreiteten Handtüchern und machten uns auf den Weg nach Hause. Die Heizung sprang an und wärmte unsere tauben Zehen und eisigen Finger. Hinter uns lag ein Tag, der die perfekte Interpretation von Surf ’n’ Turf war, ein unverfälschtes Stück Schottland.

Dieser Artikel ist aus E-MOUNTAINBIKE Ausgabe #013

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