Wie weit komme ich mit einer Akkuladung? Welche Reichweite hat dieses E-MTB? Das sind wohl die am häufigsten gestellten Fragen beim Kauf von E-Mountainbikes. Das zeigt, dass immer noch viele E-Mountainbiker von Reichweitenangst geplagt werden. Aber ist diese Angst wirklich begründet? Und wie kann man sie überwinden?

E-Mountainbikes haben sich stark gewandelt in den letzten fünf Jahren. Moderne E-MTBs sehen nicht nur sexy aus und sind technisch ausgereifter, sondern stecken auch voller cleverer Features. Der Aspekt, der sich über die Jahre am stärksten geändert hat, ist die Akkukapazität. Gerade wenn es um die Größe des Hauptakkus geht, findet nach wie vor ein großes Wettrüsten statt. Das Schreckgespenst Reichweitenangst verfolgt noch immer viele E-Mountainbiker. Es setzt Horror-Szenarien in ihren Köpfen frei, in denen sie mit leerem Akku auf den Trails feststecken und keine Möglichkeit haben, nach Hause zu kommen. Galten rund 500 Wh jahrelang als Standard, sind mittlerweile über 700 Wh die Norm. Canyon setzt für die Saison 2022 eine neue Benchmark in der Kombination aus Motorpower, Akkukapazität und Handling und verbaut einen 900-Wh-Akku in das leichtfüßige Canyon Spectral: ON CFR. Doch ist mehr wirklich besser?

Die Crux von mehr Reichweite – Bedeutet mehr Reichweite ein Kompromiss im Trail-Handling?

Dass wir per se keine Fans von großen Akkus sind, ist kein Geheimnis. Denn ein größerer Akku bedeutet immer mehr Gewicht. Und das so zu verbauen, dass das Handling des Bikes nicht zu sehr beeinträchtigt wird, ist definitiv kein einfaches Unterfangen! Außerdem nutzt faktisch ein Großteil der Biker die Kapazität ihres Akkus gar nicht aus.

So hat unsere letztjährige große Leserumfrage mit über 16.000 Teilnehmern ergeben, dass für 77 % von euch die Reichweite eures E-Mountainbikes ausreicht – und das zu einem Zeitpunkt, an dem 630 Wh als Standard angesehen wurden. 38 % nutzen hauptsächlich den schwächsten Unterstützungsmodus und 84 % von euch fahren Touren unter 50 km. Und trotzdem steigt die Nachfrage nach immer größeren Akkus. Ist das überhaupt noch sinnvoll?

Ziel dieser Story ist es nicht, euch exakte Reichweitenangaben zu liefern, sondern darüber aufzuklären, welche Faktoren eure reale Reichweite beeinflussen und wie ihr sie bei Bedarf optimieren könnt. Wir wollen helfen, Reichweitenängste zu bekämpfen und das richtige Bike mit der richtigen Akkukapazität für euch und eure Bedürfnisse zu finden. Und das, ohne dabei in das klassische „Mehr-ist-immer-besser“-Marketinggelaber zu verfallen.

Canyon hat mit dem neuen Spectral:ON inkl. 900-Wh-Akku für Furore gesorgt und Diskussionen um das Thema Akkugröße und Reichweite ausgelöst. Das Canyon Spectral:ON kommt in zwei Akkuoptionen – mit 720 Wh und 900 Wh – und hat einige spannende technische Kniffe parat, um das Mehrgewicht des großen Akkus zu kompensieren. Das perfekte Testobjekt also, um dem Thema Reichweitenangst auf den Grund zu gehen! Wir haben mit zwei Canyon Spectral:ON-Bikes zahlreiche Reichweiten-Testfahrten unternommen und für euch herausgefunden: Worauf kommt es bei der Reichweite an? Braucht man einen 900-Wh-Akku?

Die Canyon Spectral:ON 2022-Test-Bikes im Detail

Unsere Spectral:ON-Test-Bikes sind ausgestattet mit einem Shimano EP8-Motor und können sowohl mit einem 720-Wh-Akku als auch mit einem 900-Wh-Akku ausgerüstet werden. Der Tausch des von Canyon eigens designten Akkus gestaltet sich einfach: Wenn das Bike auf dem Kopf steht, kann man ihn nach unten herausziehen. Das geht leider nicht werkzeugfrei und man muss zwei Schrauben lösen, dafür kann man aber zwischen beiden Akkugrößen einfach wechseln, ohne zusätzliche Teile zu benötigen. Der größere Akku bringt 4.756 g auf die Waage und man muss beim Kauf des Bikes mit dem größeren Akku einen Aufpreis von 300 € zahlen. Der kleinere Akku wiegt mit seinen 3.862 g knapp 900 g weniger. Das neue Mullet-Trail-E-Bike von Canyon ist also der perfekte Kandidat für unseren Test, denn Geo und Komponenten bleiben identisch. Wir haben das Spectral:ON als CFR LTD- und als CF8-Modell gefahren und beide Modelle untereinander mit den verschiedenen Akkus verglichen. Wer mehr Infos zum Spectral:ON CFR erhalten möchte, findet sie hier in unserem First Ride-Artikel.

So haben wir getestet

Um die Unterschiede in der Reichweite herauszufahren, haben wir unzählige Laps auf unseren Hometrails in und um Stuttgart gedreht – mit einer großen Bandbreite an Routen, inklusive steiler Rampen. Unser Testteam ist dabei unterschiedliche Routen gefahren, wir haben mit verschiedenen Unterstützungsstufen, Tour-Längen und natürlich den zwei Akkuvarianten experimentiert. Dass das Körpergewicht unserer Tester zwischen 60 kg und 140 kg breit gefächert ist, hat uns noch differenziertere Erkenntnisse gebracht. Dafür haben wir bei unterschiedlichsten Bedingungen die Extreme ausgelotet und viele neue Erkenntnisse gewonnen.

Das bestimmt die Reichweite eines E-MTBs

Hängt die Reichweite eines E-Mountainbikes alleine an der Akkukapazität? Nein – generell sagt die Akkukapazität erst einmal wenig aus. Sie muss immer in Relation zum Motor und dessen Verbrauch betrachtet werden.

Fahrweise

Jeder Mensch ist individuell und fährt dementsprechend auf unterschiedliche Weise. Bei unserem Test hat sich herausgestellt, dass vor allem Trittfrequenz und -rhythmus einen Einfluss auf die Reichweite haben. Ein runder Tritt bedeutet eine gleichmäßige Belastung und hat im Vergleich zu einem impulsiven Tritt einen positiven Einfluss auf die Kraftentfaltung und den Energieverbrauch. Zudem haben die verschiedenen Motoren jeweils einen anderen optimalen Trittfrequenzbereich, in dem sie am effizientesten arbeiten. Bei den meisten Mittel-Motoren liegt er um die 75 Umdrehungen pro Minute.

Gewicht

Die Akkukapazität spielt natürlich eine große Rolle, aber es gibt noch viele weitere Faktoren, die die Reichweite bestimmen. Einer davon ist das Fahrergewicht: Es macht einen Unterschied, ob unser 140 kg schwerer Tester Jannik auf dem Bike sitzt oder das Fliegengewicht Paulina mit 60 kg. Denn die zusätzliche Energie, um das Extragewicht den Berg hoch zu befördern, muss natürlich aus dem Akku kommen.

Unterstützungsstufe

Auch die Unterstützung hat riesigen Einfluss auf die Reichweite. So kommt man als Eco-Tourer deutlich weiter, als wenn man ständig in der stärksten Unterstützung am Heizen ist. Schließlich muss alle Kraft, die nicht aus euren Beinen kommt, natürlich aus dem Motor kommen. Aber Vorsicht! Auch in der gleichen Unterstützungsstufe können sich die Reichweiten unterscheiden. Denn die Motorpower wird an die aufgewandte Beinkraft angepasst. Unsere Redakteure Juli und Simon wiegen beide um die 80 kg und sind die gleiche Route mit dem 900-Wh-Akku im Trail-Modus gefahren. Trotzdem haben sie sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielt: Simon hat die Runde in deutlich kürzerer Zeit absolviert und dabei auch mehr Akkukapazität verbraucht. Er hat stärker in die Pedale getreten und deshalb auch mehr von der Maximalleistung des Motors aufgerufen. Das zieht wiederum den Akku schneller leer. Mehr Input = mehr Output.

Streckenprofil

Unser Test hat die Annahme bestätigt, dass das Streckenprofil ebenfalls einen großen Unterschied macht: Eine Tour in gemäßigtem, eher flachem Terrain hat weniger Akkukapazität verbraucht als eine Tour gleicher Länge mit steilen Anstiegen. Das geht wieder zurück auf die Unterstützung des Motors. Denn wer im gleichen Modus im Flachen oder bergauf fährt, wendet bergauf mehr Beinkraft auf, was bedeutet, dass auch mehr Motorkraft aufgebracht und mehr Akkukapazität verbraucht wird.

Umgebende Verhältnisse

Andere Faktoren wie der Untergrund, die Temperatur oder die Windverhältnisse spielen natürlich auch noch in die Reichweite mit rein, sind aber sehr schwer zu beziffern. Das macht es knifflig, sie in den Test mit einfließen zu lassen. Sie haben aber für die Tourenplanung ohnehin weniger Relevanz, da diese unkontrollierbaren Faktoren dort immer mitspielen und sich ständig ändern.
Ihr seht also: Nicht nur die Akkugröße ist ausschlaggebend für die Reichweite, sondern auch – oder hauptsächlich – die Art und Weise, wie das Bike genutzt wird.

Wie man seine Reichweite auf dem E-MTB optimieren kann

Okay, wir haben also herausgefunden, was die Reichweite auf einem E-Mountainbike bestimmt. Aber an welchen Stellschrauben kann man drehen, um sie zu optimieren? Das Offensichtliche zuerst: die Akkukapazität. Natürlich bedeutet ein größerer Akku mehr Reichweite. Doch es gibt noch andere Möglichkeiten, um weiter zu kommen.

Zum Beispiel könnt ihr euch für eure Touren mehr Zeit nehmen – der Stromverbrauch im E-Bike verhält sich nämlich ähnlich wie der Spritverbrauch im Auto. Wer mit 200 km/h statt mit 130 über die Autobahn prescht, ist zwar schneller am Ziel, verbraucht aber 12 Liter statt 6 Litern pro 100 km. Und für E-Mountainbiken gilt sowieso: Der Weg ist das Ziel. Ab und zu in den Eco-Modus schalten macht euch zudem noch fitter! Ein weiterer Punkt, der hilft, ist eine gewissenhafte Tourenplanung. Denn wenn ihr eure Route vorher gut plant, könnt ihr bereits im Voraus erkennen, wo akkusaugende Rampen liegen und diese dann im Idealfall mit einem kleinen Umweg umfahren.

Wer das letzte Bisschen aus der Reichweite seines E-Mountainbikes herauskitzeln möchte, der kann zudem an der Trittfrequenz arbeiten. Die meisten Mittel-Motoren arbeiten am besten in einem Bereich von 75 Umdrehungen pro Minute. Um diese Frequenz konstant aufrecht zu erhalten, sollte man sauber schalten, damit der Motor auch bei variablen Steigungen effizient arbeiten kann.

Ist Reichweitenangst also angebracht?

Reichweitenängste sind in den meisten Fällen rational unbegründet und für die meisten Fahrer auch nicht nötig. Man muss sich selbst und seine Fahrweise hinterfragen, dann kann man erkennen: Die Angst vor zu geringer Reichweite ist eher historisch bedingt. E-Mountainbikes älterer Generationen hatten noch deutlich kleinere Akkus verbaut. Und Hand aufs Herz: Wer fährt regelmäßig Touren, die so lang sind, dass sie den Akku des Bikes leer fahren? Zudem ist die Reichweite auch nicht das Maß aller Dinge. Man kann es damit natürlich so handhaben, wie z. B. die Tesla-Ultrarange-Fahrer, und mit 60 Sachen nachts auf der Autobahn kriechen mit dem einzigen Ziel, möglichst große Distanzen zu überwinden. Dann kann es aber auch schnell passieren, dass die Essenz des E-Mountainbikens dabei verloren geht: der Spaß. Und eine Sache, die viele E-Mountainbiker oft zu vergessen scheinen: Wenn der Akku mal leer gehen sollte, heißt das nicht, dass ihr irgendwo liegen bleibt. Ihr könnt eure E-Mountainbikes auch ohne Motorunterstützung weiterfahren.

Welcher Akku ist für welchen Fahrer der richtige?

Bei der Wahl des Akkus sind vor allem Gewicht, Terrain und Fahrgewohnheiten entscheidend. Der „kleinere“ Akku wird für die meisten ausreichen, da er für kurze Runden auf den Hometrails mehr als genug Saft hat. Er ist die richtige Wahl für alle, die hauptsächlich kürzere Touren in gemäßigtem Gelände fahren. Wenn ihr eine gute Akku-Disziplin habt, auf Mehrtagestouren Ladestopps einplant, sorgsam mit den Akkus umgeht und effizient unterwegs seid oder euch gerne mal auspowert, wird der kleinere Akku für euch vollkommen ausreichen.
Schwerere Fahrer, die lange Touren fahren oder viel in steilem Gelände unterwegs sind, profitieren hingegen von dem größeren Akku. Wen das zusätzliche Gewicht nicht stört, der bekommt damit das Rundum-sorglos-Paket. Man kann seine unmotorisierten Kumpels den Berg hochziehen, auch mal zwei Tage am Stück fahren, ohne dazwischen laden zu müssen, und ist auch für längere Abenteuer oder spontane Umwege gerüstet.
Unser Credo lautet nach wie vor: So wenig wie möglich, so viel wie nötig! Denn mehr Kapazität lässt sich nicht herbeizaubern, sondern bedeutet zwangsläufig immer mehr Gewicht. Gewicht, das falsch positioniert das Handling deutlich beeinflussen kann oder durch Leichtbauteile kaschiert werden muss.

Im Falle unserer Canyon-Test-Bikes müssen wir jedoch sagen: Mit dem neuen Spectral:ON ist den Koblenzern ein Balanceakt gelungen, bei dem die 900 Wh keinen Nachteil im Handling gegenüber der 720-Wh-Variante bedeuten. Das Gewicht wurde clever an diversen Stellen des Rahmens und durch Simplifizierung eingespart und das Bike liefert so ein beeindruckendes Gesamtpaket.
Aber braucht man die 900 Wh wirklich? Für den Großteil der Fahrer werden 720 Wh zweifelsohne ausreichen! Lohnen also die 300 € Aufpreis für zusätzliche 180 Wh, was faktisch „nur“ 20 % mehr Saft ist? Im Falle des Canyon Spectral:ON meinen wir: ja! Einerseits weil der große Akku keine negativen Auswirkungen auf das Handling hat, andererseits weil Reichweitenängste – die nicht einmal rational begründet sein müssen – damit endgültig passé sind und weil der große Akku weniger Ladedisziplin benötigt. Nach kürzeren Rides muss man das Bike nicht zwangsläufig sofort wieder anstöpseln und bei gleicher Benutzung hat ein größerer Akku eine längere Lebensdauer. Die nackten Zahlen sprechen für sich: Bei dem 11.300 € teuren Topmodell bedeuten die 300 € Aufpreis 20 % mehr Akkukapazität für gerade mal knapp 3 % Mehrkosten!

Wir sind generell der Überzeugung, dass Industrie, Handel und Medien mehr Aufklärung betreiben sollten über die Faktoren, die die reale Reichweite definieren. Das wäre ein wichtiger Beitrag, um Reichweitenängste zu reduzieren.Nicht zielführend ist hingegen ein stumpfes Akku-Wettrüsten, bei dem Hersteller einfach mehr Zellen an bereits bestehenden Akkus anbringen, ohne dabei auf das Gewicht, den sich verlagernden Schwerpunkt und damit die Balance und das Handling des E-MTBs Rücksicht zu nehmen. Denn mehr Akkukapazität bedeutet selten ein besseres Trail-Handling. Das clever austarierte Spectral:ON könnte hier jedoch zum Vorreiter einer neuen wattstundenreichen E-MTB-Generation werden, die scheinbare Gegensätze in sich vereint. Wenn einen dennoch die Reichweitenangst wieder einmal heimsucht, sollte man sich eine Sache bewusst machen: Nach Hause kommt man immer. Falls der Akku wirklich mal leer sein sollte, kann man schließlich auch ohne Unterstützung noch weiterfahren.

Ruft die Ghostbusters, die Reichweitenangst hat ausgespukt! Vom leichtfüßigen E-MTB bis zum kraftvollen Allrounder bringen euch viele Bikes ans Ziel – wenn sie zu eurer Fahrweise, Unterstützungsstufe und dem Streckenprofil passen. Doch es muss nicht immer Entweder-Oder heißen, die Entwicklung geht nämlich zu mehr Fahrspaß bei mehr Reichweite: E-MTBs mit natürlichem Fahrgefühl bekommen immer mehr Power und Kraftprotze wie das neue Spectral:ON können trotz Riesenakku ein tolles Trailhandling haben.


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Words: Simon Kohler Photos: Robin Schmitt

Über den Autor

Simon Kohler

Simon liebt Geschwindigkeit. Als Downhill Skater ist er lange Zeit Rennen gefahren und mit seinem Longboard Alpenpässe runtergeknallt. Inzwischen hat er vier gegen zwei Reifen eingetauscht und heizt jetzt mit seinem Mountainbike auf Trails und Bikepark Lines. Bei verschiedensten Roadtrips durch die Alpen hat er seither einige der feinsten Trails Europas ausgekostet. Da er einige Zeit in Österreich gelebt hat, kennt er zudem die lokalen Bikeparks wie seine Westentasche. Durch sein Ingenieurstudium und seine Liebe zum Detail ist er ein echter Technik-Nerd und testet jetzt als Redakteur die aktuellsten Bikes und Parts auf Herz und Nieren. Als Frühaufsteher und selbsterklärter Müsli-Connaisseur lebt er sein Leben frei nach dem Motto „Powered by Oats. And also Legs.“