Risikosport E-MTB? „Ach Quatsch, ich hab doch die neueste Ausrüstung!” Die heißesten Trends der Bike-Branche strotzen nur so vor versprochener Sicherheit. Doch ungefährlich wird Radfahren nie sein – und soll es auch gar nicht! Vom schmalen Grat zwischen wirklich schützenden Innovationen und bunt glitzerndem Safe-Washing.

Früher war alles besser. Damals haben sogenannte Innovationen rund um das gerade aufblühende Spielzeug namens Mountainbike diese Bezeichnung wirklich noch verdient: Die erste Federgabel erlaubte plötzlich eine gewisse Mitsprache bei der Frage, in welche Richtung man über grobes Gelände rumpeln will. Dank Scheiben- statt Felgenbremsen konnte man auch bei Nässe in etwa einschätzen, welchen Effekt diese zwei Hebel am Lenker haben, wenn man an ihnen zieht. Und die absenkbare Sattelstütze erlaubte uns endlich, unseren Allerwertesten auf Abfahrten dorthin zu schieben, wo er für ein sicheres Trail-Erlebnis tatsächlich hingehört. Wow! All diese waschechten Innovationen erzeugen noch heute aufrichtiges Kopfnicken, weil Biken durch sie tatsächlich sicherer geworden ist. Der Mehrwert, den sie uns bescheren, stieß Türen auf: für neue Fahrweisen und Manöver, ja für völlig neue Interpretationen des Mountainbikens.

Jahre nach diesen Meilensteinen steht Sicherheit brandaktuell nun wieder weit oben auf der Hitliste der Marketing-Vokabeln der Fahrradindustrie. Saftey ist eines der Buzzwords schlechthin. Zielgruppenanalysen zeigen: Sicherheit ist wichtiger denn je. Klar, denn Mountainbiken, und Fahrradfahren generell, öffnet sich einem immer größeren und bunten Publikum – da soll doch bitte niemand von der Vorstellung verschreckt werden, das könnte gefährlich sein! Neue Sicherheitsinnovationen müssen also her, denn Safety sells. Allerdings können moderne Fahrräder technisch gesehen bereits ziemlich viel. Und auch, wenn Hersteller Neuheiten gerne als „die nächste Revolution” inszenieren, sind die Weiterentwicklungen nunmehr meist subtil, das Versprechen von noch mehr Sicherheit fragwürdig. Geht das überhaupt? Wir laufen auf der Suche nach immer weiteren technischen Vorsichtsmaßnahmen Gefahr, auf Safe-Washing hereinzufallen. Und dabei verkennen wir manchmal sogar, wie schön und wichtig die unbändige Wildheit und, ja, auch die Gefährlichkeit des Mountainbikens sind. Macht noch mehr Safety also überhaupt Sinn?

Mehr Schutz – Sogar vor uns selbst

Neue E-MTB-Produkte versprechen uns noch mehr Schutz in vielfältiger Weise: Schutz vor schlechter Sichtbarkeit, vor Diebstahl und vor Fahrfehlern draußen auf dem Trail – also vor uns selbst. Doch wie realistisch sind diese Versprechen? Und wollen wir das überhaupt? Spoiler: Nicht jedes Safety-Feature ist für alle gleichermaßen sinnvoll – für bestimmte Anwendungsbereiche ist manches davon aber ein regelrechtes Muss.

Sichtbarkeit

Werfen wir zunächst einen Blick auf Produkte für gute Sichtbarkeit. Moment, hören wir euch raunen. Ihr kleidet euch auf dem Trail am liebsten dezent bis nachtschwarz und wollt optisch eigentlich gar nicht auffallen? Okay, das kann stylisch sein. Jeder, der sein E-MTB auch als Commuter im Straßenverkehr nutzt oder auf dem Weg zum und vom Trail zwischen Autos hindurch muss, sollte aber auch für andere gut erkennbar sein. Das wird spätestens dann spürbar, wenn neben euch auf der Straße plötzlich Autoreifen quietschen. Was früher einmal als reflektierende, neonfarbene Überzieher zur besseren Sichtbarkeit lieblos an uns flatterte, hat inzwischen längst Akku und Lampen. Diese Gadgets arbeiten heute elektronisch und sogar intelligent. Das simple Anstecklicht mit AA-Batterie verwandelt sich beim uvex Urban Planet-LED in eine … LED und blinkt oder strahlt direkt aus der Schale des Helms heraus, in die es schlank integriert ist. Cool, denn Autofahrer können das Licht dort oben besser sehen, als zwischen Sattel und Hinterreifen verbaut. Ebenfalls cool ist die Fähigkeit von am Fahrrad montierten Rücklichtern wie dem Supernova TL3 Pro, das eine Bremsung durch Sensorik erkennt und dann umso stärker strahlt, wie das Bremslicht eines Autos. Das Varia von Garmin warnt den Biker zusätzlich dank Radarsensor sogar am Lenker, wenn von hinten Verkehr naht.

Übrigens: Sichtbarkeit muss nicht immer leuchten und blinken: Die Schweden von POC nehmen viel Geld für die Integration von Recco-Reflektoren in ihren MTB-Produkten in die Hand. Damit können vermisste Biker im Gelände vom Helikopter aus geortet und geborgen werden. Zwar werden Radfahrer selten verschüttet, so dass das System in der Praxis bislang noch nicht zum Einsatz kam (Stand Juni 2022). Doch die Technik soll eine weitere Dimension von MTB-Sicherheit eröffnen.

Zwischenfazit: Die gute alte Warnweste ist durch moderne, smarte Safety-Produkte für Sichtbarkeit funktionell und stilistisch abgelöst. Auf taghellen Bike-Trails spielt zusätzliche Beleuchtung zwar weiterhin eine untergeordnete Rolle. Spätestens aber, wenn ihr mit eurem E-MTB auch in der Stadt unterwegs seid oder lange Touren bis in die Dämmerung plant, ist sie ein Safety-Muss. Je besser integriert und unscheinbarer die Devices, desto bereitwilliger nutzen wir sie auch. Sie erfinden das Rad zwar nicht neu, machen es aber tatsächlich besser sichtbar. Richtig eingesetzt also kein bloßes Safe-Washing, sondern ein echter Zugewinn an Sicherheit!

Diebstahl

Sicherheit beginnt bereits dann, wenn ihr noch gar nicht oder nicht mehr auf dem Rad sitzt. So sehen das zumindest die Hersteller der kleinen Helferlein, die im unschönen Fall eines Fahrraddiebstahls eingreifen sollen. Und wow, hier tut sich was! Dank der Einbindung von Smartphones, mithilfe von GPS-Tracking und mit teils furchteinflößenden Warntönen stemmen sich moderne, technische Lösungen gegen den bitteren Totalverlust bei Diebstahl. Muc-Off bietet mit dem Stealth Tubeless Tag Holder eine Halterung, um im Inneren eines Tubeless-Reifens einen Airtag von Apple zu platzieren und so den Schwarm an iPhone-Nutzern als digitale Spürnase zu nutzen. Auch das Knog Scout nutzt das Netz der Apple-User zum Wiederfinden – oder schlägt Langfinger je nach Einstellung mit einem markdurchdringenden Alarmton direkt in die Flucht. Ähnliche Fähigkeiten bietet das Bosch ConnectModule, das durch Anbindung an das Energiesystem des Bikes nicht mal separat aufgeladen werden muss. Auch Specialized hält ähnliche Funktionalitäten parat.
Ersetzt ein Alarmton nun ein solides Fahrradschloss? Ähm … nein. Doch der Wunsch, das gestohlene Lieblingsbike wieder aufzuspüren, ist endlich Realität. Mit den klassischen Gefahren des Radfahrens haben solche Diebstahlsicherungen freilich nichts zu tun. Doch okay: Wenn ein Gadget sicherstellen kann, dass wir überhaupt Besitzer unseres Bikes bleiben, dann definieren wir das Thema Safety gerne so weit. Pre-Ride-Safety dann eben…

Schutz vor uns selbst

Wenn wir von keinem anderen Verkehrsteilnehmer übersehen worden sind und unser Bike auch tatsächlich noch in unserem eigenen Keller parkt, stellt sich nun noch die Frage: Wie können uns moderne Produkte davor schützen, dass wir uns draußen auf dem Trail selbst gefährden? Nein, es geht nicht um fremdverwaltete Zahlenschlösser oder die besten Verkaufsplattformen. Sondern darum, wie uns technischer Einfluss beim Fahren tatsächlich dabei helfen kann, besser und sicherer zu biken – so wie es Federgabel, Scheibenbremse und Tele-Sattelstütze geschafft haben. Dies ist die Königsklasse der Sicherheitsinnovationen und nirgends liegen Safe-Washing und echter Mehrwert so dicht beieinander wie hier. Schon mal zu fest an der Vorderradbremse gezogen und vorne weggerutscht? Nie wieder, sagen Bosch und MAGURA und rüsten E-MTBs kurzerhand mit einem Antiblockiersystem aus, das blockierende Vorderräder in die Vergangenheit verjagen soll. ABS am Fahrrad – das klingt richtig groß! Auch im praktischen Test hat uns dieser Meilenstein bereits überzeugt und damit glatt den Design & Innovation Award abgeräumt. Und groß ist auch der Kreis der möglichen Nutzer dieser Technik. Für die vielen Einsteiger und zunehmenden Gelegenheitsnutzer von E-Bikes stehen nicht Herausforderung und Reiz des Risikos im Vordergrund, sondern der Genuss einer sicheren, angstfreien Fahrt. Und genau dieses Bedürfnis kann das ABS nach unseren Tests bedienen. Klar, einige Puristen mögen die Nase rümpfen angesichts eines weiteren elektronischen Helfers am Bike, okay! Gleichzeitig werden sich viele andere über diese zusätzliche Sicherheitsoption freuen – oder das System gar nicht erst bemerken, weil sie schlicht eine sturzfreie, spaßige Tour hatten.

Andere Entwicklungen versprechen ebenso vollmundig, die nächste Revolution zu sein – und lassen uns nach ersten Tests mit vorsichtigen Fragezeichen auf der Stirn zurück. Das Lenkassistenzsystem K.I.S. von Syntace und Canyon etwa soll das Handling von Fahrrädern auf das nächste Level heben. Punkt. In unserem Test erlebten wir die mechanisch-automatische Rückstellung des Lenkers in die Geradeaus-Position dann vielmehr als ein Patt zwischen Vor- und Nachteilen. Next Level? Nicht für uns.

Der Wert des Wilden

Wir feiern weitreichende Produktneuheiten, die das Zeug dazu haben, unsere Fahrerlebnisse tatsächlich auf ein neues Niveau von Performance und Sicherheit zu heben. So ausgereift, wie viele Teile unserer Fahrräder heute bereits sind, wäre es aber naiv, hinter jeder gutgemeinten Produktentwicklung und dem dazugehörigen Marketing-Versprechen tatsächlich eine Revolution zu vermuten. Safe-Washing ist überall. Was davor schützen kann, sich darin zu verlieren? Macht euch bewusst, wie wertvoll es für manchen Typ Biker gerade ist, dass Fahrradfahren am Ende immer auch wild und ein Stück weit gefährlich ist: So gut und sicher es sich anfühlt, wenn das Vorderrad mit ABS nicht mehr ungewollt blockiert, so gut fühlt es sich auch an, mit Übung und etwas Lehrgeld Meister*in des eigenen Bremshebels zu werden und richtiges Dosieren zu lernen. So beruhigend es auch ist, das Rad vor der Eisdiele alarmgesichert zu wissen, so schön fühlt es sich auch an, dass es von vielen bestaunt, aber nicht geklaut wird. So komfortabel es auch scheint, alles für die Sicherheit getan zu haben, so erfrischend und aufregend ist es doch auch, die Dinge für einen Moment ungezügelt und mit weniger Kontrolle geschehen zu lassen. Nicht wahr?! Sicherheit wollen wir dagegen dort, wo sie dringend hingehört, sprich vor allem im Straßenverkehr und bei schlechter Sichtbarkeit.

Safety, ja bitte! Im Straßenverkehr ist Sicherheit ein Muss. Doch auf dem Trail steckt der nächste Entwicklungssprung wahrscheinlich nicht im Bike, sondern in uns selbst. Das Versprechen von immer noch mehr Sicherheit auf dem E-MTB ist weder haltbar noch nötig. Safe-Washing kann uns Sicherheit vorgaukeln, doch zu wirklich besseren Ridern machen uns nur Übung und stetig wachsendes Selbstvertrauen. Die echte MTB-Experience gibt es eben nur mit Mut und einem Schuss Risiko.


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Words: Moritz Geisreiter Photos: Diverse