Trekking, City, MTB, Aero, Damen, Herren und Co. – viele Fahrrad-Kategorien haben sich längst in den Köpfen der Fahrradfahrer*innen, aber auch der Industrie eingebrannt. Zu Unrecht! Denn die innovativsten Bikes des Jahres vereinen widersprüchliche Eigenschaften und überzeugen in einer Vielzahl von Anwendungsbereichen.

Bikes müssen kategorisiert werden, oder? Um Orientierung zwischen den unterschiedlichen Bike-Arten zu liefern, haben sich über die Jahre halbwegs feste Rubriken entwickelt, in die man die Modelle einteilen konnte. Doch mit den Kategorien Trekking, Mountainbike, Road, Aero und Co. lässt sich der Markt – so zumindest der Anschein – nicht mehr ausreichend differenzieren. Die vermeintliche Lösung: Die Bikeindustrie verliert sich in immer tieferen Sub- und Subsubkategorien und Produkten, die angeblich perfekt sind für einen spezifischen, sehr schmalen Einsatzbereich. Das führt nicht nur bei der Kundschaft zu Verwirrung und Frustration bei der Kaufentscheidung. Denn die realen Einsatzbereiche der Biker*innen liegen mit ein und demselben Produkt in einer Vielzahl ganz unterschiedlicher „Kategorien“. Die besten Produkte des Design & Innovation Award 2022 zeigen, dass sie – zur Freude aller – einen noch viel breiteren Einsatzbereich abdecken als vom Hersteller angepriesen oder von der Kundschaft zunächst angenommen. So haben nicht nur die traditionellen Bike-Kategorien, sondern auch ihre nachgestellten Sprösslinge zur Beurteilung und Einordnung von Bikes ausgedient. Es ist an der Zeit, Bike-Kategorien neu zu denken!

Tourenfreude und Downhillspaß in einem: Das Mountainbike

Jeder Trail ist einzigartig und jede Mountainbike-Tour stellt ihre ganz eigenen Anforderungen an die Biker*innen und ihre Bikes. So entwickelten sich in der Vergangenheit Spezialisten wie Downhill-, Touren-, Enduro- oder Cross-Country-Bikes. Die besten und vielseitigsten Mountainbikes schaffen es jedoch schon lange, in einem viel breiteren Spektrum richtig viel Fahrspaß zu vermitteln, und werden 2022 dank innovativer Technologien noch mal um ein Vielfaches besser: Strom ist das Stichwort!
Das elektronische vollautomatische RockShox Flight Attendant-Fahrwerk erweitert den Einsatzbereich abfahrtsorientierter Bikes enorm und kitzelt ohne Ende Effizienz und Vortrieb aus der Hinterbaukinematik. Das Fahrwerk lässt sich individuell an die Vorlieben der Fahrenden anpassen. Dadurch hilft es ehemaligen Freeride- und Enduro-Spezialisten, aus ihren jeweiligen Subkategorien auszubrechen – so überzeugen sie plötzlich als Mountainbikes mit klasse Allround-Eigenschaften in jedem Terrain und liefern obendrein enorme Sicherheitsreserven in der Abfahrt.
Genau das schafft auch das Specialized S-Works Kenevo SL, setzt aber statt auf ein elektronisches Fahrwerk auf einen kompakten, unauffälligen und sparsamen Mittelmotor, der die Person auf dem Sattel mit 35 Nm Drehmoment unterstützt. Kombiniert wird der Motor mit einem smarten, modularen Akkusystem, dessen Kapazität sich an die Tourenplanung anpassen lässt. Dabei wiegt das Bike nur wenig mehr als sein analoges Pendant, das Specialized Enduro. Dadurch und durch das natürliche Fahrverhalten des Specialized SL 1.1-Motors verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen den Subkategorien Gravity und Tour, sondern auch die zwischen elektronischen und analogen Mountainbikes. Für die Jury steht fest: Das Kenevo SL ist ein perfekt umgesetzter Vorreiter des Mountainbikes der Zukunft.

Pink it and shrink it? Das Geschlecht hat als Bike-Kategorie ausgedient

Das Geschlecht und das Alter geben bei vielen Herstellern traditionell das angeblich geeignete Bike-Modell vor. Doch die persönlichen Vorlieben und vor allem der angestrebte Einsatzzweck sollten die entscheidenden Kriterien sein, nach denen man ein Bike in Betracht zieht. Das potente und gleichzeitig vielseitig einsetzbare SIMPLON Rapcon macht der Branche vor, wie es geht: Statt auf spezielle Modellvarianten für Männer und Frauen zu setzen, passt der Hersteller die Kinematik des Hinterbaus und die Kettenstrebenlänge an die Rahmengrößen an. Besonders kleine und vermeintlich leichte Fahrer*innen können bei einer kleinen Rahmengröße den Federweg gut ausnutzen, während besonders große und schwerere Fahrer*innen ausreichend Reserven geboten bekommen, um nicht harsch durchzuschlagen.
Ebenfalls geschlechtsneutral ist das QiO EINS P-5, das sich in wenigen Handgriffen auf fast jede Körpergröße einstellen lässt. Der tiefe Einstieg erhöht dabei den Komfort für alle Nutzer*innen und sorgt obendrein für Sicherheit und Bewegungsfreiheit, wenn es im Asphaltdschungel mal zu einer Gefahrensituation kommt.

Gravel: Von der Subkategorie zum perfekten Allrounder

Wenn Vielseitigkeit einen zweiten Vornamen hätte, dann wäre es „Gravel“. Die früher oft missverstandene Subkategorie von Bikes mit Rennlenkern zeigt 2022 mit unglaublich vielseitigen und dennoch performanten Produkten, dass sie DAS FAHRRAD schlechthin ist. Bikes wie das BMC URS LTD werfen konventionelle, traditions- und kategorienfixierte Konzepte über Bord und kombinieren die besten Eigenschaften aller Kategorien in einem Produkt: Full Suspension für Komfort und Traktion aus dem MTB-Bereich, zahlreiche Sitzpositionen aus dem Road-Bereich und Staumöglichkeiten wie am Trekking-Bike. Egal ob auf der Straße, beim Pendeln, beim Bikepacking oder auf einfachen Singletrails: Das BMC URS LTD kann überall überzeugen und ist somit das perfekte Produkt für enorm viele Biker*innen, die ein und dasselbe Bike auf ganz unterschiedliche Art und Weise nutzen möchten. Auch das Wilier Rave SLR lässt sich nicht in eine Schublade stecken und macht sowohl auf der Forststraße als auch auf dem Asphalt eine überragende Figur. Der Clou: Für keinen der beiden Einsatzzwecke geht es dabei spürbare Kompromisse ein. Stattdessen ist es sowohl ein Performance-Bike für die Straße als auch ein Spezialist für Schotterabenteuer. Genial!

Trekking ist tot, lang lebe Trekking!

Wo wir gerade dabei sind, uns von überholtem Schubladendenken zu verabschieden: Wir sollten dringend auch Trekking-Bikes neu denken. Die traditionellen Ansätze mit komfortabler Sitzposition und schnell rollenden, schmalen Reifen haben ausgedient. Warum? Ein E-Mountainbike-Motor schafft es in Kombination mit den großen Akkus der neuesten Generation über lange, wirklich lange Strecken zu unterstützen. Die Bedeutung vom Rollwiderstand und der Effizienz des Trekking-Rads treten dadurch in den Hintergrund und werden vor allem vom Alltagsnutzen und dem Komfort der E-MTBs ausgestochen. Voll ausgestattete E-Mountainbikes schaffen es nicht zuletzt dank einer ordentlichen Portion Federweg und extra voluminösen Reifen, die traditionellen Trekking-Bikes aus dem Markt zu verdrängen. Der Einsatzzweck bleibt dabei im Kern derselbe, wird aber von einem viel universelleren Bike abgedeckt. Auch das VAAST E/1 nutzt viele E-Mountainbike-Elemente: einen kraftvollen Motor, einen vollgefederten Hinterbau und breite Reifen. Dazu kommen noch eine ausgeklügelte Alltagsausstattung und ein super komfortabler tiefer Durchstieg. Durch all das kann es in fast jedem Szenario überzeugen, vom Pendeleinsatz in der Innenstadt über den Fernreiseradweg bis hin zum Gravel-Abenteuer. So geht Trekking heute!

Spezialisten sind in ihrer Kategorie dennoch das Nonplusultra

Obwohl viele der innovativsten Bikes 2022 noch vielseitiger sind und noch universeller eingesetzt werden, stellen Spezialisten in einigen sehr sportlichen Disziplinen nach wie vor die Speerspitze des technisch und technologisch Möglichkeiten dar. Eine reinrassige Rennmaschine wie das MERIDA SCULTURA TEAM ist schon im Serienzustand bereit für den Kampf um das gelbe Trikot. In Sachen Speed und Performance ist sie auf glattem Asphalt das Nonplusultra und prägt so die Entwicklung des Straßenrennsports maßgeblich mit. Obwohl das MERIDA eindeutig auf hohe Performance spezialisiert ist, wagt es selbst dieses Bike, sich etwas breiter aufzustellen. So glänzt es für ein Race-Bike mit einem sehr hohen Maß an Komfort und macht entsprechend auch auf sportlichen Touren eine gute Figur. Spezialisten bleiben in ihrem Spezialgebiet also oft Trumpf. Doch dieses Beispiel zeigt uns, dass auch sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten breiter aufstellen können.

Die meisten Bikes haben es nicht mehr nötig, sich einer Kategorie zuzuordnen

Die Bikeindustrie entwickelt ihre Produkte mit enormer Geschwindigkeit und implementiert neue Technologien und Innovationen innerhalb kürzester Zeit in ihren Produkten – sowohl mit als auch ohne Motorunterstützung. So sind die heißesten Bikes 2022 bereits um einiges potenter als ihre nur wenige Jahre älteren Äquivalente und Vorgänger. Kategorien und Einordnungen, die den Markt noch vor einigen Jahren aussagekräftig differenzieren konnten, haben heute zur Klassifizierung der meisten Bikes ausgedient. Viel wichtiger als die Frage nach dem Federweg, dem Gewicht oder der Akkukapazität ist die Frage: Von wem, wie und wo wird das Bike eingesetzt? Ein Großteil der Fahrradfahrer*innen nutzt das Bike in einer Vielzahl von Einsatzszenarien, die oftmals konträr zueinander stehen. Die besten Bikes des neuen Modelljahrs schaffen es, eben solche konträren Bedürfnisse in nur einem Produkt ideal zu vereinen. Je breiter der tatsächlich sinnvolle Einsatzzweck eines Bikes ist, desto mehr Nutzer*innen kann es glücklich machen. Nur wer sein Sportgerät ausschließlich in einer ganz spezifischen Kategorie – wie z. B. im Mountainbike-Downhill-Einsatz – nutzt, fährt 2022 mit spezialisierten Bikes der Subkategorien besser.

Einige Bike-Kategorien wird es auch in Zukunft noch geben und das ist gerade im sportiven Wettkampfeinsatz gut so. Doch anstatt den Markt mit vermeintlichen Spezialprodukten immer feiner auszudifferenzieren, tut die Industrie gut daran, Bikes kategorieübergreifender aufzustellen. Nur so kann man den anhaltenden Bike-Boom und die tatsächlichen Bedürfnisse der Bike-Fans bedienen. Denn viele Gewinner des Design & Innovation Award 2022 lassen sich gar nicht erst in Schubladen stecken!


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