Ausgabe #016 Inspiration

Zen-Doping, Ride-Life Balance und Flow – Interview mit Zen-Meister Hinnerk Polenski

Was hat Miguel Indurain, Steve Jobs und die Samurai so erfolgreich gemacht? Was bedeutet wahre Meisterschaft? Wir haben uns mit Zen-Meister Hinnerk Polenski im Daishin-Zen-Kloster Buchenberg getroffen und über Leistungssteigerung, Ride-Life-Balance, Flow-Momente und den Sinn von Sport gesprochen.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Lieber Hinnerk, vielen Dank für diese Gelegenheit zum Interview. Stellst du dich unseren Lesern bitte kurz vor?

Hinnerk:
Das ist für Zen-Meister immer sehr schwierig, denn wenn die sich vorstellen würden, dann würden sie einfach nur schweigen. (Lacht) Unsere Aufgabe als Zen-Meister ist, den Menschen zu dienen. Und das Dienen ist: A man without a rank and name. Es ist eigentlich nicht wichtig, woher man kommt, und es ist auch nicht wichtig, wohin man geht. Das Entscheidende ist, was jetzt in diesem Moment ist. Das heißt die Präsenz zwischen uns beiden, der Moment, der jetzt ist – das ist das Entscheidende. Und danach entscheiden Menschen auch, ob sie mit einem Meister einen Weg gehen oder nicht. Das ist das Einzige. (Lange Pause, Lachen als Reaktion auf mein Schmunzeln)

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Danke, das ist die beste Vorstellung, die wir jemals bei einem Interview hatten. (Lachen)

Hinnerk:
Ja, die beste Vorstellung ist keine Vorstellung.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Kannst du uns dann zumindest erklären, was man sich als Laie unter Zen vorstellen kann?

Hinnerk:
Zen ist der Weg zum Wesentlichen. Was das bedeutet, das muss jeder selbst fühlen. Deshalb ist Zen ein Übungsweg, ein Trainingsweg, ein Weg der eigenen Erfahrung oder vor allen Dingen auch der eigenen Transformation, der Veränderung, der Verbesserung. Daher passt das Thema Zen auch sehr gut zum Thema Sport. Die sind eigentlich miteinander verbunden, untrennbar. Also die Vorstellung, dass es ein Zen auf der einen Seite und Sport auf der anderen Seite gibt, das ist in Asien nicht existent.

  Ich habe jetzt Traubenzucker gegessen und vorher ein paar Liegestütze gemacht …

Ein großes Potenzial des Menschen ist seine Kraftmitte. Wenn ich erkenne, was das Wesentliche meiner Kraft ist, also was meine Kraftmitte ist, dann höre ich auf, die Energien nach außen zu verschleudern. Menschen, die Sport treiben, wissen genau, was ich meine: Eine Zeit lang ist man in einer sportlichen Tätigkeit vollkommen fokussiert und dann kommt dieser Moment, in dem dieser Fokus aufreißt und eine unglaubliche Klarheit da ist. Man spürt plötzlich eine Kraft, die über das hinausgeht, was ein Trainer oder man selbst macht. Sie ist mehr als: „Ich habe jetzt Traubenzucker gegessen und vorher ein paar Liegestütze gemacht …“ Diese Kraft ist eine Kraft der Einheit von Körper, von Energie und von Geist. Das ist ein ganz kleiner Moment, in dem uns dieses Wesentliche begegnet.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Was du beschreibst, kennen sehr viele Sportler – beim Biken würden wir es als Flow-Moment bezeichnen, in dem einfach alles eine Einheit ist.

Hinnerk:
Richtig. Doch Zen ist weit mehr als dieser Flow-Moment. Wenn der Flow in einer Tätigkeit stattfindet, nennt man das im traditionellen Zen ein positives Samadhi. Das heißt, ich habe eine Bewegung, aber die habe ich gemeistert. Ich habe die Kraft, ich habe die Energie, ich habe diese Bewegung sozusagen in eine unbewusste Ebene gebracht und bin in einer Totalität von Aktivität im Moment. Das ist aber nicht der Sinn des Zen, sondern nur eine Erfahrung, die mir zeigt, dass es etwas anderes gibt als die ewige Verstrickung um mich herum. Es gibt etwas anderes als Kummer, Sorgen, Reihenhaus. Es gibt irgendetwas in mir – und das habe ich gerade erlebt –, das kann ich gar nicht benennen.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Zen hat eine Jahrtausende alte Tradition in den asiatischen Kulturen und im 20 Jahrhundert auch stark im Westen an Popularität gewonnen. Die Samurai haben Zen benutzt, um ihre kämpferischen Fähigkeiten zu verbessern. Steve Jobs hatte einen Zen-Meister, der ihn auf seinem Weg unterstützt hat. Oftmals wird es als „Doping“ benutzt, sei es zur sportlichen oder kognitiven Leistungssteigerung. Aber ist Zen mehr?

Hinnerk:
Ja, definitiv. Viele Leistungssportler hören aber leider beim Flow-Erlebnis auf und sagen: „Ja deshalb jogge ich, deshalb bike ich, und dabei erlebe ich das.“ Aber wir Menschen haben das Potenzial, diese Dimension in unserem Alltag zu öffnen. Und dann ist es nicht mehr Flow, dann ist es Bewusstsein. Dann ist es eine Transformation, die auch mein Leben ändert, und die zu einem durchgehend bewussten, erfüllten und glücklichen Leben führt. Nicht Biken als Flow, sondern mein Leben als Flow – mit Ecken und Kanten, verpassten U-Bahnen, Kindern mit Bauchschmerzen, den Problemen der Partnerin oder des Partners.

Ideales Zen ist, wenn der Flow nicht mehr unterbrochen ist. Sportler haben einfach dieses Privileg, dass sie für Augenblicke diese Unmittelbarkeit des Moments erleben. Das ist sozusagen ein Funke, aber der Sinn von Zen ist nicht ein Funke, sondern es sind Tausende, Millionen dieser Funken, bis irgendwann alles in diesem Licht erstrahlt. Das ist zwar keine Lampe, die angeht (Lachen), aber es ist eigentlich die Wirklichkeit selbst, die da aufleuchtet.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Wenn du von „Lampe angehen“ sprichst, könnten wir eine Diskussion über Erleuchtung beginnen, würde ich jetzt aber skippen.

Hinnerk:
Lassen wir mal weg, ja

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Du hast gerade die Technik erwähnt und die Tatsache, dass viele Sportler die Technik gemeistert haben. Frage: Sind sie dann Meister auf ihrem Gebiet?

Hinnerk:
Nein. Die Technik ist notwendig als Mittel, aber sie macht nur ein Drittel aus. Lass uns die drei Teile mal anschauen, die zu diesem Wesentlichen, zu diesem Potenzial der eigenen Mitte führen.

Der erste Teil ist, dass ich mich erforsche und für mich rausbekomme: Was ist unbedingte Kraft? Was ist eine Einheit? Was ist die Verbindung von mir und allem? Was ich bin, was ich wahrnehme, so wie ich denke und wie ich fühle – ist das alles? Oder gibt es noch eine andere Dimension, ein höheres Potenzial? Und wie fühlt sich das an? Das alles übe ich auf der Sitzmatte im Zazen (Anm. d. Red.: eine Meditationstechnik des Zen). Und nur dort kann ich es trainieren. Im Alltag kann man unter bestimmten Voraussetzungen – nicht nur beim Sport – kurzzeitig diese Kraft und Einheit erfahren. Wir Menschen kennen diese besonderen Momente: Du stehst vor einem Sonnenuntergang, schaust in die Abendröte und dein Herz ist berührt, öffnet sich und du fühlst dich mit allem verbunden. Nur ist dieses kurzweilige Spüren lediglich ein Öffnen einer Wirklichkeit, die uns sonst in Verstrickung verdeckt ist. Zazen, das Sitzen in Kraft und Stille, ist das „Training“ für das ganz langsame Öffnen dieser Wirklichkeit.

Hier gibt es für Sportler eine besondere Brücke, die du auch schon angesprochen hast. Denn am Anfang führt Zen auch zu einer Leistungssteigerung im Sport. Das ist nicht der Sinn von Zen, aber es passiert. Trainer berichten uns von deutlichen Leistungs- sowie Begeisterungssteigerungen – schließlich ist das ein Feld, wo es viel zu gewinnen gibt, weil nur die wenigsten Sportler diese Vorteile nutzen. Wir sind zum Beispiel gerade dabei, mit dem SC Freiburg ein Konzept für Zen und Leistungssport zu entwickeln.

Aber zurück zum Zazen: Bei der Meditation spüre ich etwas in mir, was mehr ist als das bedingte Verstrickte. Die entscheidende Frage ist nun, wie kriege ich das in die Wirklichkeit? Viele Menschen, die spirituelle Wege gehen, spüren das, kriegen die PS aber nicht auf die Straße.

Das ist dann noch mal ein Tick mehr als nur Flow. Denn dann steige ich von meinem Rad ab und stehe einfach irgendwo an einem Berg und auf einmal ist dieser Flow nicht nur auf meinem Rad, sondern überall.

Als Sportler besitzt man den zweiten Teil, den wir im Zen brauchen, nämlich das Do: Die Bewegung ist einfach, die Bewegung ist wiederholbar und die Bewegung öffnet diese Erfahrung, die wir in der Meditation gewonnen haben. Die Voraussetzung für den zweiten Teil ist also, dass ich entweder eine sehr einfache Bewegung mache wie Joggen oder eine Kata aus der Kampfkunst. Oder ich bin ein versierter Sportler, der einen komplexen Bewegungsablauf verinnerlicht hat und nicht über die Bewegung nachdenken muss. Dann kann man die Erfahrung aus der Mediation in diesen Flow hinein nehmen. In einem solchen Fall merke ich nicht nur: „Ich rausche wie verrückt den Berg runter, so einen krassen Trail, den man eigentlich mit einem Fahrrad überhaupt nicht befahren kann, und es geht irgendwie und es ist Flow.“ Sondern ich kann darüber hinaus die tiefe Erfahrung der Meditation in diese Dimension mit reinnehmen – von diesen Erfahrungen gibt es sehr viele: innere Kraft, Mitte, Achtsamkeit, Herz, Einheit und so weiter. Das ist dann noch mal ein Tick mehr als nur Flow. Denn dann steige ich von meinem Rad ab und stehe einfach irgendwo an einem Berg und auf einmal ist dieser Flow nicht nur auf meinem Rad, sondern überall. Ich bin einfach nur da, in dieser Wirklichkeit. Das ist der dritte Teil. Dann bin ich einfach in meiner Realität, in meiner Wirklichkeit – und das ist das Ankommen in seinem Alltag. Das heißt, ich bin in einem Flow, in diesem Jetzt, im Stehen.

Daraus besteht dieser Dreiklang von Zen. Sportler haben auf diesem Weg einen klaren Vorteil, weil sie einfach schon einen Teil der Hausaufgaben gemacht haben. Für sie ist der Zen-Weg leichter, sie ernten auch schneller die Früchte. Denn wenn man wirklich in einem Move ist und Zen macht und diese beiden Dinge verbindet, dann kann es zu einer Erfahrung kommen, die einen menschlich transformiert – und das ist richtig geil. Punkt. (Lachen)

Daraus besteht dieser Dreiklang von Zen. Sportler haben auf diesem Weg einen klaren Vorteil, weil sie einfach schon einen Teil der Hausaufgaben gemacht haben. Für sie ist der Zen-Weg leichter, sie ernten auch schneller die Früchte. Denn wenn man wirklich in einem Move ist und Zen macht und diese beiden Dinge verbindet, dann kann es zu einer Erfahrung kommen, die einen menschlich transformiert – und das ist richtig geil. Punkt. (Lachen)

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Viele Rennradfahrer oder ambitionierte Mountainbiker haben ein enormes Trainingspensum, sind extrem fokussiert und versuchen krampfhaft, ihr Ziel zu erreichen. Dabei verliert man – ich kenne das selbst – oftmals seine Gelassenheit und hört auf, auf die Signale seines Körpers zu hören und ihn zu spüren. Was sagt Zen dazu?

Hinnerk:
Die alten Meister würden sagen, man verliert sich. Man rauscht mit Leistung und Power am Ziel vorbei. Denn das Ziel selbst ist das Leben. Leistung und Wettbewerb sind vom Zen her okay. Aber das ist nicht der Sinn. Der Sinn ist, dass wir das ganze Leben mit etwas füllen. Dabei ist der Körper der Schlüssel für alles. Extreme sportliche Herausforderungen, eine zu starke Fixierierung auf Ziele und auch die Digitalisierung in unserem Alltag unterstützen dieses Verlieren von Körperempfindung. Wenn ich den Kontakt zum Körper verliere, bin ich nicht mehr immun gegen schlechte Stimmung, gegen Verstrickung. Wie kann es sein, dass man bei einer großartigen sportlichen Aktivität ein langes Gesicht zieht? Es ist nur möglich, wenn man nicht bei sich, sondern bei seinen Gedanken ist. Wenn man nicht die Realität sieht, wie sie ist, sondern sie getrübt wahrnimmt durch die Verstrickung und Gedankenwelt.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Der fünffache Tour-de-France-Sieger und Weltmeister Miguel Indurain hat gesagt: „Meine Stärke lag darin, dass ich ausgeglichener und ruhiger war als die meisten anderen Fahrer.“

Hinnerk:
Exakt. Genau das ist es. Umso mehr man im Körper ist und sich als Einheit wahrnimmt, umso besser ist man für eine Herausforderung gewappnet und immun gegen schlechte Stimmungen. Dabei handelt es sich ja nicht nur um ein Körperempfinden, sondern um ein Privileg – und auch das sollte man wahrnehmen. Zum Beispiel beim Mountainbiken: Ich bin in den Bergen, ich bin in schönster, krassester Natur mit einem durchtrainierten Körper. Ich meine, was geht denn da mehr?

Wenn ich in einer Wettbewerbssituation bin und meinen Körper nicht mehr spüre, nur weil ich zu fokussiert bin, dann ist das Quatsch. Bei einem wichtigen Turnier sagte mal ein Bundestrainer: „Schauen wir mal.“ Das ist ein Spruch, den man nur sagen kann, wenn man vorher sechs Monate hart trainiert hat. Denn jetzt kann ich nicht mehr trainieren. Jetzt, in dieser Wettkampfsituation, da muss ich loslassen. Denn alles, was ich jetzt noch an Fokus habe, wird zum Hindernis. Ich muss in eine offene, weite, brillante Achtsamkeit gehen: Ich muss jeden Stein wahrnehmen und Steine sehen, die ich normalerweise nicht sehen kann. Und ich muss vollkommen bereit für das sein, was hinter der nächsten Kurve ist, obwohl ich es noch gar nicht sehen kann. Das ist dann diese offene Ebene, die man genießen muss. Das ist geil. Und dann ist es auch geil zu gewinnen.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Macht das also einen wahren Meister aus?

Hinnerk:
Ja, das ist der Punkt. Aber wenn du gerade nicht in einer Wettbewerbssituation bist, möchte ich dir sagen: Steig ab und zu mal ab. Stell dich einfach mal hin und sei außer Atem und steh so lange, bis dein Atem wieder ruhig wird. Steh einfach und sieh, was du siehst, und nimm das auf und atme das. Atme den unendlich weiten Himmel und atme die Berge und atme die Kraft der Erde und der Steine und der Felsen und sei dieser Fels. Und dann, wenn die Ruhe da ist, setz dich wieder auf das Bike und dann geht’s wieder ab – das ist doch toll! (Lachen)

Wettbewerb ist okay. Nur ist das Leben kein durchgehender Wettbewerb. Ansonsten ist das Stress, der am Ende dazu führt, dass man ein Burnout hat. Und es gibt leider einige Sportler, die das hinkriegen. Sport ist eine Tätigkeit, die uns in eine Mitte bringen kann. Aber man muss ihn dafür auch aus der Mitte betreiben. Es gab immer Menschen, die auch ohne Zen in diese Qualitäten des Über-sich-Hinausgehens gekommen sind. Auch in diesem Fall, wirkt sich das dann weit über den Sport hinaus auf unser ganzes Leben aus. Der Sport ist immer nur ein Eingang und im Zen ist Sport als Do ein Drittel dieses Aspekts.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Die Samurai sagen über das Bogenschießen: Man irrt, wenn man denkt, dass es auf das Treffen ankomme. Worauf kommt es dann an?

Hinnerk:
Auf den Moment, in dem ich hier bin. Die Totalität des Moments, dieses unmittelbaren Augenblicks, jetzt, hier. Hier und jetzt an dieser Stelle. Und auf nichts anderes. Ich habe gelernt, den Bogen zu beherrschen, und jetzt in diesem Moment ziehe ich den Bogen und das alles ist perfekt, so wie es ist. Ich löse die Sehne, der Pfeil schießt nach vorne und fliegt. Und das ist perfekt. Ob ich in diesem Moment ins Schwarze treffe oder nicht, das spielt keine Rolle. Wenn ich nicht ins Schwarze treffe, dann wird der alte Meister sagen, du hast die Sehne eine Umdrehung zu stark gespannt oder für so und so viel Pfund bist du noch nicht stark genug. Also übe erst mal mit 50 Pfund.

Es gibt zwei verschiedene Relationen: Nur weil man sagt, der Weg ist das Ziel, heißt das noch lange nicht, dass es egal ist, ob wir treffen oder nicht. Aber der Moment, in dem wir sind, ist die Totalität – und auf ihn legt man den Fokus. Doch wir machen es in der Regel genau anders herum: Unsere Gedanken kreisen darum, ob wir gewinnen oder nicht gewinnen, und weil wir so viel denken, trainieren wir schlecht. Und deshalb verlieren wir. Denn unsere Aufmerksamkeit liegt nicht bei der Tätigkeit im Jetzt, dem Moment in dem wir Handeln, sondern bei dem Ziel. Aber wenn wir offen und gelassen sind, sind wir in diesem Moment voll bei unserem Tun. Dann üben wir unsere Übungen und diese Übung wird zum Do. Dann geht es nicht um das Ziel, sondern um die Übung selbst.

Wenn ich zum Beispiel Liegestützen übe, dann geht es nicht darum, ob ich jetzt 50 schaffe oder 58. In diesem Moment der Übung geht es um jeden einzelnen Liegestütz. Aber wenn ich gerade den Liegestütz 23, 24, 25 mache und denke: „Ahh 58, Gott oh Gott, ich muss noch 33 Liegestützen machen – und ich habe noch nicht mal 30 geschafft.“ Dann schaffe ich es auch nicht. Was für ein Stress! Wichtiger ist, jeden Tag Liegestützen zu machen und irgendwann habe ich 60 und denke: „Huch, wie ist das denn passiert?“

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Man kämpft also gegen sich selbst an in dem Moment, in dem man denkt: „Oh, ich habe erst so und so viele Liegestützen gemacht“ oder „Verdammt, ich bin erst so und so viele Kilometer gefahren“?

Hinnerk:
Hochleistung ist kein Moment, in dem ich in einem unangenehmen, ätzenden Gefühl bin und gegen mich ankämpfe, oder über Sieg oder Niederlage zweifle. Es ist ein Moment, in dem etwas passiert, wo ich an der Grenze bin und vielleicht über eine Grenze hinweg gehe. Ich will nicht schon wieder das Wort „geil“ verwenden, aber im Wettkampf an einer Grenze zu sein und über eine Grenze zu gehen, ist großartig. Es ist ein unglaubliches Gefühl. Und in dem Moment ist das Gewinnen oder Nicht-Gewinnen nicht so wichtig, sondern das, was in dem Moment passiert. Und wenn ich merke, „oh, ich bin nur Zweiter geworden“, dann ist das so; dann verändere ich meinen Trainingsplan und habe Trainer und Berater, die sagen: „So oder so musst du das machen“. Dann hast du die Möglichkeit, das anzunehmen und dein Training anzupassen. Du startest wieder neu und trainierst jetzt jeden Tag zehn Minuten mehr. Aber dazu muss man sich nicht die Birne verrückt machen. Man trainiert einfach nur zehn Minuten mehr. Oder die Beine mehr als die Arme oder was auch immer. Klar, Kampfgeist ist was anderes, aber darum geht es nicht. Wahrer Kampfgeist, wahre Meisterschaft ist kein Stress. Das ist das Gegenteil von Stress. (Lachen)

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Kommen wir zum nächsten großen Punkt, der Ride-Life-Balance. Für viele ist das Bike auch ein Stressventil, das perfekte Tool um abzuschalten und sich den „Kopf frei zu fahren“. Gibt es einen Unterschied zwischen „ich fahre mir den Kopf frei“ und Zen?

Hinnerk:
Hochleistung ist kein Moment, in dem ich in einem unangenehmen, ätzenden Gefühl bin und gegen mich ankämpfe, oder über Sieg oder Niederlage zweifle. Es ist ein Moment, in dem etwas passiert, wo ich an der Grenze bin und vielleicht über eine Grenze hinweg gehe. Ich will nicht schon wieder das Wort „geil“ verwenden, aber im Wettkampf an einer Grenze zu sein und über eine Grenze zu gehen, ist großartig. Es ist ein unglaubliches Gefühl. Und in dem Moment ist das Gewinnen oder Nicht-Gewinnen nicht so wichtig, sondern das, was in dem Moment passiert. Und wenn ich merke, „oh, ich bin nur Zweiter geworden“, dann ist das so; dann verändere ich meinen Trainingsplan und habe Trainer und Berater, die sagen: „So oder so musst du das machen“. Dann hast du die Möglichkeit, das anzunehmen und dein Training anzupassen. Du startest wieder neu und trainierst jetzt jeden Tag zehn Minuten mehr. Aber dazu muss man sich nicht die Birne verrückt machen. Man trainiert einfach nur zehn Minuten mehr. Oder die Beine mehr als die Arme oder was auch immer. Klar, Kampfgeist ist was anderes, aber darum geht es nicht. Wahrer Kampfgeist, wahre Meisterschaft ist kein Stress. Das ist das Gegenteil von Stress. (Lachen)

Erst mal ist es, unabhängig von Zen, hervorragend, dass so viele Menschen in diesem Land Sport machen. Punkt. Wenn wir Sport treiben, uns dabei den Körper zurückerobern und ihn dabei spüren, ist das schon mal ein Riesenschritt. Wenn wir ihn spüren, ist er auch bereit, in ganz anderen Leistungsdimensionen zu sein. Das ist erst mal etwas ganz Großartiges. Und dahinter kommt noch eine Heerschar von Medizinern und Statistiken, die wir auch alle kennen. Dreimal die Woche Sport ist die beste Prophylaxe gegen Krankheiten, die man sich vorstellen kann – neben Zen und grünem Tee.

Aber an dieser Stelle noch einmal an alle Radrennsportler und Mountainbiker: Haltet zwischendurch an und guckt, wo ihr seid. Richtet euch auch mal auf dem Fahrrad auf, seid einfach einen Moment hier. Da bin ich, es regnet, ich bin im Wald, es riecht nach Tannen, es ist wunderbar. Oder ich habe jetzt einen langen Anstieg geschafft und jetzt stehe ich hier für einen kleinen Moment und genieße diesen unglaublichen Ausblick. Das beides gehört zusammen. Der Körper ist dabei sozusagen in einer Vitalisierung, er ist außer Atem, es ist heiß, er schwitzt. Das ist ein Gesamtkunstwerk.

Diese wunderbare Einheit aus Bewegung und zwischendrin Anhalten ist ein gutes Fundament. Körperbewusstsein ist eine wichtige Basis, um Stress gar nicht erst entstehen zu lassen. Es ist aber auch eine Basis, um Dinge, ja mein Leben zu verändern. Denn der Wille und der Körper sind miteinander verbunden. Wenn ich Sportler bin und mich im Sport übe und das mit meinen Erfahrungen aus dem Zen verbinde, dann komme ich zu einer Dimension innerer Kraft, innerer Mitte und einem Hauch mehr Willen. Das heißt, ich bin durchaus in der Lage, Grenzen besser zu setzen, klarer zu sein in meinem Leben und eben auch zu bestimmten Dingen Nein zu sagen. Denn das sind Ursachen für Stress: nicht Nein zu sagen, nicht klar zu sein, keine Grenzen zu setzen.

Einem echten Radfahrer ist der Regen doch egal, oder? Für den ist das Draußen seine Einheit – egal wie die Wetterkonstellation ist, egal ob die Sonne auf den harten Asphalt brennt oder der Regen den Trail aufweicht. Von dieser Erfahrung kann man als Biker ausgehen. Und Zen ist dann in der Lage, dieses Fundament in meinen gesamten Alltag hineinzutragen. Oder eben umgekehrt auch, durch die Zen-Übung meinen Sport so zu weiten. So greift das zusammen und wird ein Kreis. Das heißt, diese beiden Dinge ergänzen sich immer schneller, immer intensiver. Am Ende ist die Essenz nicht die sportliche Leistung, sondern die Erfüllung im Leben.

Körperbewusstsein ist eine wichtige Basis, um Stress gar nicht erst entstehen zu lassen.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Das Problem mit der Erfüllung haben ja viele Profisportler und Promis, die ganz oben ankommen und dann merken: Ah halt, mir fehlt irgendwie etwas. Leute, die mit sich nie zufrieden sind und ständig nach dem nächsten Erfolg gieren in der Hoffnung, er würde endlich die Befriedigung schaffen. Du hast den Realitätscheck – das Innehalten, Durchatmen und Spüren – ja bereits angesprochen; im Zen sind Haltung und Atmung zwei fundamentale Dinge. Könntest du dazu noch ein bisschen konkreter etwas sagen?

Hinnerk:
Das Anhalten ist sehr wichtig. Deshalb würde jedem empfehlen, zwischendurch anzuhalten und für einen Moment die Schultern nach hinten zu ziehen. Also den Brustbereich zu öffnen und einfach Luft einzuatmen, langsam und tief auszuatmen, mir gewahr zu sein, wo ich bin. Und in diesem Moment einfach nur den Körper zu spüren, den Schweiß, ich bin außer Atem. Aber ich versuche, über das Ausatmen langsam dieses Außer-Atem-Sein zur Ruhe zu bringen und in eine Stille zu gehen. Und wenn ich mich dann wieder draufsetze und weiterfahre, ist das ein anderes Setting, als wenn ich einfach nur durch die Gegend knalle und gar nicht mitbekomme, was um mich herum ist. Bewusst zu sein, wo ich bin – was ist das für ein großartiges Erlebnis?

Und dieses Bewusstsein verändert meinen Blick auf die Dinge und mein Handeln. Die Essenz von Zen ist das Anhalten in der Verstrickung. Das Anhalten in der Verstrickung von Denken und Emotion, um hier zu sein. Einfach hier. Das Denken macht unsere Wirklichkeit, dieses Hier-Sein, manchmal zu einem Drama oder zu einem Regentag. Wir sind mitten in einem Regentag, halten an und stellen fest: Es scheint die Sonne. Das ist der Punkt, um den es geht.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Nehmen wir an, ich habe jetzt dieses Interview gelesen und sage: „Oh, meine Erfahrungen auf dem Bike waren ähnlich, das klingt spannend, ich würde Zen mal gerne ausprobieren.“ Was wäre für mich der nächste Schritt?

Hinnerk:
Also erst mal haben wir einen YouTube-Kanal mit kleinen Videos zum Thema Meditation. Da sind so ganz kleine Aspekte drin, wo man schon mal eine Idee bekommt. Natürlich sind alle Leser herzlich eingeladen, hier zu unserem Seminarzentrum nach Buchenberg zu kommen, um Meditieren zu lernen.

Eine einfache Übung der Meditation ist, sich auf die Kante eines Sofas, eines Stuhls zu setzen, Wirbelsäule gerade und sieben Mal hintereinander ganz langsam auszuatmen. Wieder einatmen. Das Einatmen ist egal, aber sieben Mal ganz langsam ausatmen und sich damit nach innen fallen lassen. Danach noch eine Weile so sitzen und einfach die Geräusche hören, die Umgebung wahrnehmen, den Körper wahrnehmen, Gerüche wahrnehmen. Und irgendwann kommt ein Impuls und dann höre ich auf und mache weiter. Aber das ist wirklich eine ganz kleine Meditation, ein kleiner Eingang.

Entscheidend ist, warum Menschen meditieren. Sie hören von allen Seiten, dass man mehr Power, mehr Herz, mehr Einheit, weniger Furcht, keine dunkle Stimmung hat, stressimmun wird und so weiter, tatü tata. Aber am Ende des Tages ist das nicht der Grund, warum Menschen meditieren, sondern der Grund ist, dass sie einfach mal meditiert haben und plötzlich selbst eine Erfahrung machen. Sie sagen: „Krass, die Form von Kraft, das bin ich. Oder die Form von Klarheit, das bin ich. Warum mache ich mir eigentlich so viel Stress die ganze Zeit? Das Leben ist so großartig, was mache ich da eigentlich für einen Terror?“ Und das ist der Moment, wo Menschen anfangen zu meditieren. Das zu erfahren ist natürlich sehr schwierig in so einer kleinen Übung, selbst über YouTube.

Am besten geht man mal auf ein Seminar oder lässt sich darauf ein, in angeleiteter Form unter einem Meister oder Lehrer so lange zu üben, bis dieser kleine Moment da ist. Und dann kommt das Wow und dann hat man das verstanden. Das ist das Gleiche wie beim Sport. Man macht ja Sport nicht, weil man einen an der Waffel hat und irgendeine Null hinter dem Komma mehr braucht, sondern weil es Freude macht. Es gibt doch nichts Schöneres, als wenn ich krassen Sport gemacht habe, geduscht habe und völlig fertig auf irgendeiner Bank sitze und es rauscht alles noch mal so an mir vorbei. Ich sitze einfach so mit nassen Haaren da. Das sind diese Momente, wo etwas Tiefes mich berührt. Und Zen ist dieser Moment im ganzen Leben. (Hinnerk schließt die Augen, 1 Minute Stille).

Ja, würde mich freuen, wenn viele Menschen davon berührt sind – denn gerade für Sportler ist das eine großartige Geschichte.

E-MOUNTAINBIKE Magazine:
Hinnerk, vielen Dank für dieses inspirierende Interview.

Mehr Infos:

Nachdem Hinnerk sich nicht selbst vorstellen wollte, hier nun ein paar Infos zu seiner Person für alle, die den Grundsatz „A man without a rank and name“ noch nicht ganz umarmen können:

Zen-Meister Hinnerk Polenski (auch Syobu Sensei) ist Zen-Meister und Abt des europäischen Daishin-Zen-Ordens und des Zen-Klosters Buchenberg im Allgäu. Er ist ordinierter Mönch und Mitglied des Hokoji-Rinzai-Ordens sowie des Syoko-ji in Japan. „Syobu“ (jap. Zen-Krieger) ist sein Dharma-Name, der ihm von Zen-Meister Oi Saidan Roshi 1992 gegeben wurde. Polenski (Jahrgang 1959) praktiziert seit mehr als 40 Jahren den Zen-Weg. Gemeinsam mit seinem Lehrer Reiko Mukai gründete er die Daishin-Zen-Linie, eine Zen-Schule, deren Schwerpunkt auf die Entwicklung eines europäischen Zen-Weges gerichtet ist. Zen für Führungskräfte ist eine von drei Ausrichtungen des Daishin Zen.

Begegnungen mit Pater Enomiya-Lassalle (christliches Zen) und Karlfried Graf Dürckheim (Zen und Psychologie) haben seine traditionelle Zen-Ausbildung der japanischen Rinzai-Schule ergänzt.

Hinnerk Syobu Polenski leitet seit über 25 Jahren Zen-Seminare für Führungskräfte in Deutschland, Österreich, Luxemburg und der Schweiz. Nach über zehn Jahren als selbstständiger Unternehmensberater widmet er sich seit 1999 ganz dem Zen-Training und dem Coaching von Führungskräften.

Seine vom Bayerischen Rundfunk und anderen dritten ARD-Programmen seit 2001 ausgestrahlte Serie „Zen-Meditation“ erreichte bisher Millionen Zuschauer, die gleichnamige DVD verkaufte sich mehr als 10.000 Mal.

Jährlich finden mehr als 50 Seminare mit ihm und seinem Trainerteam statt. Mehr als 1.000 Männer und Frauen aus allen Branchen werden jährlich durch Daishin-Zen in Meditation eingeführt.

Zusätzlich zu 25 Daishin-Zen-Meditationsgruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es mittlerweile mehr als 15 Zendos (Orte der Meditation) in deutschsprachigen Unternehmen. In Vorständen und Geschäftsführungen unterstützt Hinnerk Polenski Führungskräfte in eigenen Meditationsgruppen. Regelmäßig meditieren mittlerweile mehrere Tausend deutschsprachige ManagerInnen und Führungspersonen, viele davon sind über die Zen Leadership Academy mit Zen vertraut gemacht worden.


Weiterführende Links

Zen Kloster Buchenberg: zen-kloster.de
Wer sich für das Seminar „Energie Tanken – Tiefenentspannung und Kraft“ anmeldet, kann bei der Anmeldung den Code ZEN GRAN FONDO angeben, um einen Rabatt in Höhe von 50 € zu erhalten.

Zen Leadership Academy: zen-leadership.de

Hinnerk Polenski hat diverse Bücher publiziert. Buchempfehlung für den arbeitenden Großteil unserer Leserschaft: Hinnerk Polenski: In der Mitte liegt die Kraft. Mit Zen gelassen bleiben in der Arbeitswelt. Theseus Verlag 2014. [Leseprobe]


Dieser Artikel ist aus E-MOUNTAINBIKE Ausgabe #016

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Words & Photos: Robin Schmitt

Über den Autor

Robin Schmitt

Robin ist einer der zwei Verlagsgründer und Visionär mit Macher-Genen. Während er jetzt – im strammen Arbeitsalltag – jede freie Sekunde auf dem Bike genießt, war er früher bei Enduro-Rennen und ein paar Downhill-Weltcups erfolgreich auf Sekundenjagd. Nebenbei praktiziert er Kung-Fu und Zen-Meditation, spielt Cello oder mit seinem Hund (der eigentlich seiner Freundin gehört!), bereist fremde Länder und testet noch immer zahlreiche Bikes selbst. Progressive Ideen, neue Projekte und große Herausforderungen – Robin liebt es, Potenziale zu entdecken und Trends auf den Grund zu gehen.