Ein Blick hinter die Kulissen und in die Zukunft, sowie die wirklich wichtigen Fragen hinter dem Specialized Turbo Levo-Entwicklungsteam: Was lässt Ingenieure zu Innenarchitekten werden und warum sind die Köpfe hinter dem Levo mindestens so egoistisch wie genial?

Wir befinden uns 9.400 km östlich des kalifornischen Hauptsitzes von Specialized, um den Entwicklungen der besten E-Mountainbikes 2018 und 2019 auf den Grund zu gehen. Willkommen in der Schweiz. Genauer gesagt, im beschaulichen Cham, wo sich das E-Bike-Entwicklungszentrum von Specialized befindet und die Wurzeln des Turbo Levo liegen.

Cham 8.30 Uhr. Wir biegen auf das 400 Jahre alte Gelände der alten Papierfabrik. 1960er-Jahre-Industriecharme und die türkis-blaue Lorze lassen das Herz eines jeden Lost-Place-Fotografen oder Instagram-Influencers höherschlagen. Die Entwicklung hinter einem der bedeutendsten E-Mountainbikes erwartet man hier allerdings nicht. Einzig und allein das beeindruckende, matt-schwarze Eingangstor mit dem glänzenden Specialized-Schriftzug gibt unmissverständliche Hinweise. Einst war das vom Fluss abgetrennte Gebäude die Werkstatt der Papierfabrik. 1957 erbaut, ist es heute eines der modernsten Bauwerke auf dem Gelände. Nachdem die Papieri Cham 2015 die Produktionsstätte nach Italien umgelagert hatte, wurde das 120.000 qm große Gelände nach und nach mit Wohnungen und Büroräumen bebaut. Unmittelbar nach den Sanierungsarbeiten ist das Specialized-Entwicklungs-Team 2016 eingezogen. „Wir sind jeden Tag zum Baumarkt gefahren,“ erinnern sich die Entwickler des Specialized-Teams an den Aufbau ihres Entwicklungszentrums vor dem Umzug. Und selbst 3 Jahre danach findet man in den Ecken noch Baumaschinen und Baumaterial. Von der Grundsubstanz zeugen heute noch die alten Lastenkräne, die wie Geister längst vergessener Tage über den Hallen hängen. Außerdem finden sich zu Teilen das alte Mauerwerk sowie Glasfronten wieder, die beispielsweise im Erdgeschoss die Büros von der Werkstatt trennen.

Als wäre die Stadt für den Geburtsort der Specialized Turbo Levos gemacht, erhielt Cham 2012 den European Energy Award und ist damit eine von wenigen Gemeinden in der Schweiz, die sich für nachhaltige Energie und Umweltschutz einsetzt. So wird der Strom für das Gelände der ehemaligen Papierfabrik aus der Lorze und den Photovoltaikanlagen auf dem Dach gewonnen. „Wir wollten uns unbedingt im Herzen des E-Bike-Booms ansiedeln, um nahe am Rider und dem Markt zu sein. Dies ist für die Produktentwicklung enorm wichtig. Daher waren natürlich Deutschland, Österreich oder die Schweiz als mögliche Standorte sehr naheliegend. Und da wir in der Schweiz bereits eine Niederlassung hatten, haben wir uns schließlich dort eingenistet.“ – Dominik Geyer, Global Business & Marketing Manager.

Tritt man durch den Haupteingang, gelangt man in das kleine Specialized-Levo-Privatmuseum. Vom Specialized Ur-Turbo mit Nabengetriebe und Riemenantrieb über den ersten Turbo Levo-Prototypen, Turbo Levo der ersten Generation bis hin zum Turbo Kenevo sind hier alle elektrischen Meilensteine versammelt. Besonders auffällig ist allerdings nicht die Sammlung an Fahrrädern, sondern ein extravaganter Wohnwagen mit super vielen Details, der den weiten Weg aus Amerika in die Schweiz auf sich genommen hat. Der von dem Specialized-Team liebevoll genannte „Happy Camper“ beschreibt das Nebenprojekt von keinem Geringeren als „Design-Guru“ und Firmenlegende Robert Egger: Neben 1:1 Meetings kann jeder Mitarbeiter nach einem langen Tag auch die Ruhe und Einsamkeit im „Happy Camper“ genießen.

Vom Mountainbike zum E-Mountainbike – vom Stumpjumper zum Turbo Levo

Noch spannender wird es ab der Markierung „Restricted Area!“ auf dem Weg ins tiefe Innere des Gebäudes. Hier entstehen frei nach der langjährigen Specialized-Philosophie „Innovate or die“ die Ideen und Konzepte, die in den kommenden Jahren die Zukunft unseres Sports bestimmen sollen. Ganz gleich, ob es um neue Linienführungen aus den Federn der Designer geht oder um Geometrien und Antriebskonzepte aus den Köpfen der Entwickler. In Cham arbeiten rund 24 Designer, Ingenieure und Entwickler einzig und allein daran, das beste E-Mountainbike auf den Markt zu bringen, und das können wir mit den Ergebnissen unserer Vergleichstests 2018 und 2019 bestätigen. Erst was im Kern fest verankert ist, kann sich auch im Äußeren entfalten. Die Specialized-Dudes leben E-Bikes, sind mitten im Markt und haben ein Office, das ihre Arbeitsweise und ihren Anspruch an die Produkte reflektiert. Obwohl Specialized ein Milliardenkonzern ist, schaffen es die Kalifornier, einen ganzheitlichen Ansatz zu finden – ebenso wie Leute, die diesen Traum leben. Marketing und Branding ist hier mehr als eine oberflächliche verkaufsfördernde Maßnahme. Ihr Konzept bleibt immer authentisch. Man spürt den Antrieb dahinter: Stimmt das Produkt, dann geht der Rest auch leichter von der Hand.

„Ein Rad verlässt unser Entwicklungszentrum erst, wenn wir stolz auf das Produkt sind und das Rad ein „S“ auf dem Steuerrohr verdient,“ so der CEO Mike Sinyard. Der interne Stolz hängt wortwörtlich an den Wänden der Designer. An jeder freien Stelle findet man entweder ein riesiges Poster von Specialized oder handsignierte und eingerahmte Trikots der bislang noch nicht motorisierten Teamfahrer.

Auf den Schreibtischen selbst schreit alles nach E-Mountainbike: Hier ein Motor, da ein Akku und dort Schaltkreise oder gleich das komplette Levo für den Lunchride um Punkt 12.15 Uhr. Wir lassen es uns nicht nehmen, mit Marco Sonderegger, Product Manager Turbo, und Jan Talavasek, Engineering Director Turbo, eine Runde auf den Haus- und Hof-Trails zu fahren. Wie es sich für einen echten Entwickler gehört, optimiert Marco sein Turbo Levo auf dem Weg in Richtung Gipfel mit dem Smartphone: „Shuttle Mode 40 %, Stealth Mode on, Battery Peeper off, Turbo 100 %/100 Peak, Trail 50 %/100 Peak, Eco 30 %/30 Peak, Acceleration auf 0 %“. Steil wie die Eigernordwand und durchzogen von Wurzeln sind die Trails auf der anderen Seite des Hügels alles andere als leicht zu fahren.

Mountainbiker bauen Mountainbikes

Und verdammt: Die Jungs hängen hart am Gas! Unten angekommen, spricht das breite Grinsen in den Gesichtern für sich selbst. „Wir bauen das geilste Rad für uns selbst“. Jans Augen funkeln uns euphorisch an und genau das ist das Gefühl, was in uns aufsteigt, als wir zum Schluss durch die Hallen von Specialized in Cham gehen. Die Menschen, die hier arbeiten, erschaffen Räder für sich selbst. Die Bikes entstehen durch viel Arbeit, Hirnschmalz und einer fetten Portion Leidenschaft, die man aus jeder Geste und jedem Gespräch über das Levo heraushören kann. „Mein Lieblingsdetail? Schwierig, da das ganze Bike ja nur so davon wimmelt. Was ich weiterhin als absoluten Mehrwert sehe, ist das modulare Cockpit. Mit dem Levo kann jeder genau das Cockpit zusammenstellen, das ihm entspricht. Von puristisch bis hin zu Spielkonsole…“, so bringt es Jan auf den Punkt.

„Mein Lieblingsdetail? Schwierig, da das ganze Bike ja nur so davon wimmelt. – Jan

Wenn es etwas nicht zu kaufen gibt, dann bauen wir es uns selbst, siehe S.W.A.T. – Marco

Wir sind überzeugt, dass sich das Angebot an E-MTBs am Markt weiter diversifizieren wird. – Dominik

Um am Ende des Tages das beste E-Mountainbike auf die Beine zu stellen, arbeitet das Specialized-Levo-Team super eng mit ihren Zulieferern zusammen. So können alle Komponenten perfekt aufeinander abgestimmt werden. Daher ist die Software und Motorcharakteristik im Brose Drive S Mag auch eigens auf das Specialized Levo angepasst und abgestimmt worden.

„Der E-Bike-Markt wird auf alle Fälle spannend bleiben“, da ist sich Dominik sicher. „Sowohl auf Bike- wie auch auf Technologie-Seite wird die Innovation weiter voranschreiten. Gleichzeitig sind wir überzeugt, dass auch noch mehr Rider den Weg zum E-Mountainbike finden werden und dass sich das Angebot an E-MTBs am Markt weiter diversifizieren wird – sei es in Bezug auf Leistung, Reichweite, Gewicht oder Einsatzgebiet.“


Dieser Artikel ist aus E-MOUNTAINBIKE Ausgabe #016

Das E-MOUNTAINBIKE Magazin erscheint auf Deutsch und Englisch im digitalen App-Format. Ladet euch jetzt die App für iOS oder Android und lest alle Artikel auf eurem Tablet oder Smartphone. Kostenlos!


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als E-MOUNTAINBIKE-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, dass der E-Mountainbike-Sport auch weiter ein kostenloses und frei zugängliches Leitmedium hat! Jetzt Supporter werden!

Words & Photos: