
Schotter knirscht, der E‑Motor surrt, salzige Gischt liegt in der Luft. „Ancora una curva!“, ruft Trailbauer Nicolò Accame und drückt sein Vorderrad scheinbar schwerelos um die nächste Spitzkehre – nach oben, versteht sich. Unter uns glitzert das Ligurische Meer, über uns windet sich ein schmaler Pfad weiter hoch. Der perfekte Schauplatz, um zu verstehen, warum Pietra Ligure gerade als Uphill‑Hotspot Europas gehandelt wird.


Von Höhlenmenschen bis High‑Torque
Finale ist Downhill, Pietra das Gegenstück dazu – und vielleicht genau das, worauf die E‑MTB-Welt gewartet hat. Bereits mehr als 30 ausgewiesene Uphill-Trails schlängeln sich heute vom Meer durch die Macchia, die typisch mediterrane Vegetation. Sie fädeln sich in ein Wegenetz ein, das seit 300.000 Jahren menschlicher Geschichte gewachsen ist: prähistorische Pfade, römische Handelsstraßen und alte Maultierwege. Was früher Transportweg war, ist jetzt Spielfeld für moderne Motorpower. Ein perfektes Beispiel dafür, wie alte Kultur – buchstäblich – unter den Stollen weiterlebt.


Enrico Guala, E-MTB-Pionier der ersten Stunde und heute mitverantwortlich für den Bike-Tourismus in der Region, erinnert gern daran, dass schon die ersten Siedler hier oben unterwegs waren, um zwischen weiten Höhlen und dem fruchtbaren Küstenstreifen zu pendeln. Mit dem Mountain‑Bike‑Boom der 1980er Jahre entdeckten die Locals die vergessenen Pfade neu. Ab 1999 brachte die spektakuläre “24 Hours of Finale” die Region ins Rampenlicht der Bike‑Welt, gefolgt von Superenduro-Rennen ab 2008 und den Enduro World Series ab 2013. Jede Disziplin hinterließ ihre Spuren. Jetzt ist die Zeit des E-MTBs – und wieder passt das Gelände wie zugeschnitten.

Die Kunst des Uphills
Viele der designierten E-MTB-Anstiege stammen von Nicolò, der uns im Rahmen unseres jüngsten Trailbike-Vergleichstests mit 30 E-MTBs beherbergte und mit allerlei Anekdoten aus seinem Nähkästchen versorgte. Ursprünglich legte er die Uphills nämlich nur für sich und seine Crew an – entsprechend knackig. Gemeinsam mit Freunden räumte er jahrhundertealte Pfade frei, versetzte Steine, schnitt Dornen – immer mit dem Ziel, hinauf- statt „nur” hinunterzufahren. Das Ergebnis ist ein technisch höchst anspruchsvoller „natürlicher Pumptrack bergauf“, der Balance, Motorsteuerung und Mut gleichermaßen fordert.


Das Problem dabei: Fortschritt braucht Lernstufen, aber an Einsteiger-Uphills fehlt es der Region eindeutig noch etwas. Die Verantwortlichen jedoch haben reagiert und mit „Roll Up“ einen guten Einstiegspunkt für Uphill-Liebhaber und solche, die es einmal werden wollen, geschaffen. Hier übt man Hinterrad‑Versetzen in Switchbacks oder den perfekten Motormodus‑Wechsel. Im Rahmen unseres großen Trailbike-Vergleichstests haben dieser Pfad und wir uns gegenseitig viel abverlangt – und bergab danach auf dem „Roller Coaster“ die perfekte Mischung aus Flow und Adrenalin gefunden. Genau solche Kombis machen den Reiz von Pietra Ligure aus: Statt auf Asphalt bergauf zu schwitzen, könnt ihr euch hier gleich zu Beginn einer Tour mit engen Spitzkehren und Wurzelfeldern fordern.

Urlaubsflair zwischen Trail und Meer
Ob 24‑Stunden‑Rennen, E‑Enduro‑Serien oder Ladys‑Fahrtechnikcamps: Veranstaltungen dienen den Ligurern nicht nur als Besuchermagnet, sondern auch als Real‑Life‑Lasttest für neue Lines. Jede Startnummer bringt Feedback, jede Ziellinie neue Ideen. Nach dem Debüt der E‑Enduro World Series 2020 in Pietra wurde etwa ein steiler Stich entspannt, ein anderer extra verschärft, weil die Profis „zu locker“ hochgekommen sind.

Aber nicht nur Trails lassen sich entspannen: Cappuccino im Borgo, Focaccia am Strand, abends Vermentino statt Iso‑Drink – Pietra vereint Trail‑Tage mit mediterranem Lebensgefühl. Nach der Ausfahrt zieht Meeresluft durch die Gassen, während Werkstatt‑Chefs Ventile zischen lassen und Trailbauer den nächsten Felsblock markieren. Das große Ziel: Touren ganz ohne Asphalt und ohne Shuttle‑Pick‑ups. Wer in Finale jemals in einem staubigen Jeep stand, versteht die Motivation sofort.
Ein Netzwerk, das wächst
Die Outdoor-Region in Finale listet mittlerweile 226 offizielle Trails in neun Gemeinden. Ihr Zustand ist per Live‑Ticker online abrufbar, inklusive Schwierigkeitsgrad 1–3 für Uphill-Trails. Die Beschilderung im Gelände hinkt diesem digitalen Überblick allerdings noch etwas hinterher – am zuverlässigsten navigiert man derzeit mit Apps wie Komoot oder Trailforks.


2024 flossen laut Enrico Guala über 1.200 Arbeitsstunden in den Bau und die Pflege der Trails. Finanziert wird das unter anderem über die FOR YOU Card – ein digitales Ticket, das Rabatte bündelt und einen kleinen Teil jeder Nutzung in Trailbudget verwandelt. Industriepartner wie Bosch eBike Systems liefern Ladesäulen und Technik‑Know‑how, Re‑Power stellt Gratis‑Strom und Komoot‑Pakete bereit. Das Ergebnis: Wer den Akku leergefahren hat, findet spätestens im nächsten Ort eine Steckdose – wenn es sein muss, mit Meerblick.
Die Crew arbeitet nach eigenen Angaben hart daran, bis 2030 alle zentralen Uphill-Trails so auszubauen, dass 80 % der Besucher sie fahren können, ohne dabei den Core‑Charakter der Region zu verspielen. Außerdem soll es in naher Zukunft möglich sein, ganz auf Zubringerstraßen zu verzichten und stattdessen bei jeder Tour ausschließlich auf offiziellen Trails unterwegs sein zu können – Up- wie Downhill.



Was soll man da noch sagen: Während hierzulande schon eine winzige neue Abfahrt Politdiskussionen auslöst, legalisiert Pietra einen Uphill nach dem anderen. Mehr Transparenz, mehr Freiheit – 365 Tage Saison. Das Modell müsste eigentlich Blaupause für deutsche Mittelgebirge sein, in denen Forst und Tourismus leider noch viel zu häufig aneinander vorbeireden.
Für wen ist Pietra Ligure das perfekte Bike‑Revier?
Für Fahrerinnen und Fahrer,
- die technische Uphills lieben oder lieben lernen wollen,
- die Linien knobeln, statt sich nur herunterrollen zu lassen,
- die Ladepunkte schätzen und gern neue Regionen verketten.
Unverzichtbar im Gepäck:
- solide Fahrtechnik oder den Willen, sie zu lernen,
- griffige, robuste Reifen,
- frisches Mindset: Scheitern gehört hier zum Fortschritt,
- ein gutes Glas Vermentino für die Sieges‑/Lehr‑Stunde danach.
Manchmal mögen wir es hart
Pietra Ligure ist kein All‑Inclusive‑Resort – es ist rau und genau das macht den Reiz aus. Hier trifft antikes Wegenetz auf High‑Torque‑Gegenwart. Engagierte Builder, Events und Industriepartner halten das System am Laufen. Einsteiger‑Flow‑Uphills sind noch Mangelware, stehen aber ganz oben auf der To‑Do‑Liste. Was es schon heute gibt, sind 365 Tage Saison und eine Community, die all ihre Energie in die Trails steckt. Kurz: Wer Uphill-Trails so ernst nehmen will wie Downhill, findet an Liguriens Küste das aktuell vielleicht spannendste Labor Europas.
Words: Jonny Grapentin Photos: Julian Schwede