In diesem ernüchternden Moment eisiger Klarheit wusste ich, ich hatte versagt. Weg war das selbstgefällige Grinsen, das ich in den letzten Wochen voller Vorfreude im Gesicht getragen hatte. Wenige Sekunden später gab mein Hirn jegliche Suche nach einer Lösung auf und kam zu dem Schluss: do or die.

Mediterranes Klima, ganzjährig Sonnenschein, unberührte Berge und Strände – Korsika klingt nach einem Traumziel für E-Mountainbiker. Und ist somit auch die ideale Location für den französischen Hersteller Lapierre, um sein neues, mit einem Shimano-Antrieb bestücktes Overvolt AMi 727 zu launchen. Am Konzept gab es nichts zu meckern: Man nehme einige Journalisten, eine Handvoll krasse Bikes und den zehnfachen Downhill-Weltmeister Nicolas Vouilloz und gebe dem Ganzen drei volle Tage auf atemberaubenden Trails hinzu.

Ein flüchtiger Blick auf den Wikipedia-Artikel zeigt für den Februar eine Durchschnittstemperatur von 14 °C an, etwa so warm wie in Schottland im August. Das Packen sollte also unproblematisch sein: Shorts, T-shirts und – als Brite immer auf das Schlimmste vorbereitet – eine leichte Windjacke. Warum, ja warum nur habe ich mir die Wettervorhersage nicht angesehen? Die Warnung, dass in ganz Europa mit ungewöhnlicher Kälte zu rechnen sei und man sich mit warmen Sachen eindecken sollte, kam für mich zu spät: Wir waren bereits unterwegs und mich überfiel kurzzeitig eine Panik-Attacke. Ich versuchte positiv zu denken: Hey, selbst ein ungewöhnlich kalter Winter wird den Mittelmeerraum schon nicht so hart überrollen. Nicht ganz überzeugt von meinen zurechtgelegten Argumenten stellte ich mich mental auf einen erbitterten Kampf mit dem Kälteeinbruch ein, der in Großbritannien noch den Spitznamen „the Beast from the East“ erhalten sollte – ausgerüstet nur mit einer Sommerjacke und meinem eisernen Willen.

  Wer hatte sich das ausgedacht?

Das Wetter verschlechterte sich zusehends: Eisglätte führte zu Behinderungen auf den Straßen Großbritanniens, der Flughafen in Nizza wurde aufgrund zu großer Schneemassen gesperrt, in Toulon, wo wir auf die Fähre warteten, empfing uns eine weiße Landschaft – wer hatte sich das ausgedacht?

Bei -8 °C standen wir an der rutschigen Anlegestelle: Auf den 12-Meter-Katamaran steigen? Keine Chance! Die Crew musste das Boot erst von einer 15 cm dicken Schneeschicht freischaufeln, bevor sie uns hinüber zur Bucht segeln konnte, wo uns die Trails erwarteten.

Wie halberfrorene E-Mountainbike-Wikinger durchquerten wir in der Bucht von Ajaccio das kristallklare Wasser. Unser Angriff auf die korsischen Berge begann mit einem Sprung vom wackeligen Deck unseres Langschiffs auf den Sand – sehr vorsichtig, denn keinesfalls wollten wir bei Temperaturen unter 0 °C in nassen Schuhen biken. Wir fanden eine bizarre Szenerie vor: mediterraner Sand mit einer weißen Schneekruste und Kinder in Skianzügen, die am Strand Schneemänner bauten. Nach einem schnellen Kaffee kurbelten wir den Berg hoch, wo uns ein Mittagessen und das Akkulade-Date erwarteten. Sofort wurde klar: die steilen, steinigen und sandigen Anstiege des korsischen Vorgebirges liegen dem langhubigen AMi 727 bestens. Wir nahmen direkte Lines und fanden Traktion an Stellen, die mit einem herkömmlichen Mountainbike nicht befahrbar gewesen wären.

Leider dauerte es nicht lang, bis der Schnee so dick auf dem Untergrund lag, dass selbst Nico mit dem Anstieg zu kämpfen hatte. Und so begann die zermürbende Schinderei mit dem E-Mountainbike auf dem Rücken. Die Pedalunterstützung war bei der Steigung und der fehlenden Reibung nutzlos und so suchten wir mit geschulterten Bikes im Schnee nach einem sicheren Tritt für unsere Füße.

Unter der Last eines 23 kg E-Mountainbike bei Sonnenschein im windgeschützten Tal fühlten sich die -3 °C eher wie +30 °C an. Zum Glück waren wir eine gute Crew, wir nahmen die Schlepperei mit Humor und machten es uns so gegenseitig etwas leichter. Schließlich erreichten wir das Bergrestaurant, in dem wir unsere wohlverdiente Mittagspause verbringen wollten. Dann der Schock: Die Betreiber hatten keine Chance ihre Berghütte zu erreichen, daher blieb die Hütte geschlossen. Nicht das, was man hören will, wenn man nass, durchgefroren und mit den letzten mageren Reserven unterwegs ist. Eine schnelle Erkundung der Umgebung zeigte aber: Es gab jede Menge Feuerholz. Kurz darauf drängten wir uns alle um die Flammen, abwechselnd auf den Füßen tretend, um unsere rapide auskühlenden, nassen Körper möglichst schnell aufzuwärmen. Unser Guide zeigte, aus welchem Holz er geschnitzt war, als er ein paar Wildschweinwürste und etwas Ziegenkäse aus seiner Tasche hervorholte. Die Köstlichkeiten wurden über dem Feuer gegrillt und eilig verschlungen.

Als wir auf der anderen Seite des Berges die Abfahrt in Richtung unseres Basecamps im Küstenstädtchen Porto Pollo nahmen, fühlte es sich an wie ein komplett anderer Tag. Der Schnee entließ die Berge allmählich aus seinem eisernen Griff und wir fanden uns auf offenen Singletrails wieder, unterbrochen von kurzen, aber intensiven Anstiegen. Noch weiter unten, auf dem letzten Stück vor Porto Pollo, waren die Bedingungen exzellent, der Fels trocken und der sandige Lehm locker und griffig zugleich. Alle waren euphorisch, nach so vielen technischen Aufstiegen endlich richtig abgehen zu können. Unsere Jubelrufe wurden nur von Brems- und Driftgeräuschen unterbrochen.

Die korsische Küche dreht sich hauptsächlich um Wildschwein und Ziegenkäse – Veganer sollten sich lieber ein paar Sandwiches einpacken. Esskastanien gibt es aber auch überall – die Wildschweine ernähren sich davon, und zusammen mit dem heimischen Bier, Pietra, kommen sie auch gut. „Gut für Schweine, gut für euch“, wie unser Guide es ausdrückte. In der Brasserie Le 20140 wurden wir begrüßt wie Ehrengäste. Beim Abendessen flossen große Mengen an Pietra und Vin Rouge, bevor der Abend etwas eskalierte und Flaschen mit „Get 27“, einem giftgrünen Likör, und eiskaltem Pastis herumgereicht wurden.

Am nächsten Morgen erwachte ich leicht zerstreut, erst beim zweiten Kaffee fing mein Hirn langsam wieder an zu funktionieren. Es war unser zweiter Tag, und zu meinem Glück zeigte das Thermometer nicht, wie vorhergesagt, -11 °C. Kalt war es natürlich trotzdem, aber unser Ziel waren die relativ wind- und wettergeschützten Enduro-Stages oberhalb von Porto Pollo. Durchzogen von verblockten, steilen Anstiegen sind sie ideal, um das Lapierre bergauf auf Trails zu testen, die teilweise mit einem Trial-Motorrad schwierig zu fahren wären. Ohne echte Entschlossenheit hätte man an diesen Brocken und Steilrinnen keinen Spaß gehabt, doch eine gute Linienwahl und gleichmäßiger Krafteinsatz waren mindestens genauso essentiell. Zuhause, in Großbritannien, hatte ich mein E-Mountainbike bis dahin hauptsächlich genutzt, um das Maximum an Downhill-Zeit rauszuholen. Deshalb öffneten mir dieses Terrain und diese Art zu fahren die Augen für eine ganz neue Welt. Wenn man Weltklassefahrern zusehen kann, wie sie – vor Kurzem noch unmögliche fahrbare – Lines auf modernen E-Mountainbikes meistern, wird einem klar, wie viel Potential noch in diesem Sport steckt.

Wieder runterzuheizen war eine genauso große, wenn auch vertrautere Herausforderung. Die steilen, technischen Trails sind eine Mischung aus Finale und Madeira und bringen E-Mountainbikes und Fahrer gleichermaßen an ihre Grenzen. Sand, lose Steine und Felsbrocken bilden den größten Teil der Oberfläche, doch es gibt auch jede Menge lehmigen Boden unter den Bäumen. Selbst unter derart nassen Bedingungen hatten die Trails Grip und das Wasser lief schnell ab.

Das Abendessen nahmen wir im fantastischen Restaurant Le Frere zu uns, wo ausschließlich regionale Zutaten verwendet werden. Es überrascht nicht, dass als Spezialitäten des Hauses Wildschwein und Ziegenkäse angeboten wurden, doch sie eignen sich hervorragend, um die Reserven hungriger Biker nach einem harten Tag auf dem Bike wieder aufzufüllen.

Unser letzter Tag brach an und wir befanden uns wieder auf dem Weg hinauf in die Berge hinter Porto Pollo, um auf der anderen Seite die Trails zurück bis zur Bucht von Ajaccio hinunterzuheizen. Der erste Anstieg hoch auf den Bergrücken führte über Ackerland und einige flowige Singletrail-Passagen, eine willkommene Abwechslung nach den letzten Tagen. Oben auf dem Gipfel blieb wenig Zeit für den Ausblick, denn wir mussten uns beeilen, unsere Akkus zu laden (elektrische sowie körperliche) – vor uns lag die längste Abfahrt des Trips. Wenn einem ein zehnfacher DH-Weltmeister sagt, dass die nächste Stunde „sehr technisch und anspruchsvoll“ wird, dann passt man besser auf. Der Reihe nach fuhren wir eine steile, enge Schlucht mit losen Untergrund hinunter, bevor der Trail breiter und noch steiler wurde und uns direkt in eine Serie sandiger, natürlicher Anlieger katapultierte. Man konnte das Adrenalin im ganzen Tal riechen, als wir mit vollem Tempo durch die Kurven heizten. Der laute Ruf „DROP!“ eilte einem großen Felsdrop voraus und – ehe wir wussten, wie uns geschah – waren wir unten auf der Straße, schüttelten unsere Unterarme und Handgelenke aus und grinsten von einem Ohr zum anderen.

Die Wolken verdunkelten sich, als wir in den Badeort Porticcio einrollten. Glücklich und zufrieden nach einem schönen Vormittag auf dem Bike und froh, dass wir dem Regen entgangen waren, schlugen wir uns die Bäuche mit Crêpes voll. Und sahen zu, wie sich der Himmel öffnete und der Regen auf unsere verschmuddelten Bikes hämmerte.

  In diesem Moment wurde mir klar, dass ich so viel mehr geschafft hatte, als nur irgendwie zu überleben!

Zusammengedrängt in der engen Hütte sank die Motivation der Gruppe, im sintflutartigen Regen weiterzufahren, schnell. Wir spielten mit den Gedanken die Passagierfähre mit Kurs auf die andere Seite der Bucht zu nehmen, von wo die Fähre uns zurück nach Frankreich bringen würde. Doch für viele britische E-Mountainbiker sind Temperaturen um 10 °C bei starkem Regen völlig akzeptable Sommer-Bike-Wetterbedingungen. Da wir seit dem Gipfel kaum pedaliert hatten, beschloss ich aus dem Tag noch etwas rauszuholen und nötigte den Rest der Gang zu einer letzten Tour durch die über uns liegenden Berge. Als wir den Gipfel erreicht hatten, kam die Sonne zum Vorschein und die Bucht von Ajaccio glitzerte umrahmt von den schneebedeckten Bergen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich so viel mehr geschafft hatte, als nur irgendwie zu überleben!

Der Radsport ist in Korsika sehr beliebt, und die Trails liegen quasi vor der Haustür der meisten Städte und Dörfer. Die Locals nehmen die E-Mountainbike-Revolution begeistert an, denn sie macht es erst möglich, so viel steiles Gelände zu erschließen. Deshalb werdet ihr auf den Trails willkommen sein und euch keine dummen Sprüche von wegen “faul” und “cheaten” anhören müssen – denn cheaten geht auf den korsischen Trails eh nicht.


Dieser Artikel ist aus E-MOUNTAINBIKE Ausgabe #013

Das E-MOUNTAINBIKE Magazin erscheint auf Deutsch und Englisch im digitalen App-Format. Ladet euch jetzt die App für iOS oder Android und lest alle Artikel auf eurem Tablet oder Smartphone. Kostenlos!


Hat dir dieser Artikel gefallen? Dann würde es uns sehr freuen, wenn auch du uns als Supporter mit einem monatlichen Beitrag unterstützt. Als E-MOUNTAINBIKE-Supporter sicherst du dem hochwertigen Bike-Journalismus eine nachhaltige Zukunft und sorgst dafür, dass der E-Mountainbike-Sport auch weiter ein kostenloses und frei zugängliches Leitmedium hat! Jetzt Supporter werden!

Words: Thomas Corfield Photos: Stéphane Candé