Ausgabe #016 Szene

Opinion: E-Mountainbike = Ersatz-Mountainbike?

Die New York Times, die ZEIT, die BBC, das Wall Street Journal – alle berichten aktuell vom kalifornischen Beyond Burger: dem Fleisch ohne Fleisch, der Revolution auf dem Teller. Doch während sich die Weltnachrichten in den Geschmacksnoten und der Konsistenz des pflanzenbasierten Burgers aus dem Labor verlieren, übersehen sie die traurige Realität dieses Schauspiels.

Lustigerweise verlaufen die Burger-Diskussionen ähnlich wie beim E-Mountainbike: Man spricht unglaublich viel über die Bestandteile: Erbseneiweiß-Basis, Bambuszellulose, Kartoffelmehl, Gummiarabikum, Ascorbinsäure, Rapsöl, Rote-Bete-Saft für die Farbe bzw. den Blutersatz – ja, auch ein Veggie-Burger muss bluten, wenn er auf dem Grill liegt!

Aber leider spricht man wenig über den Sinn. Es gibt so viel leckeres Gemüse, warum sind wir (noch) nicht mental bereit, einfach das zu essen?

Muss sich ein E-Mountainbike so fahren wie ein Mountainbike? Und wie fährt eigentlich ein Mountainbike? Glaubt man manchen Herstellern oder Magazinen, so lautet die Devise: möglichst leicht, möglichst weit, möglichst wendig, möglichst effizient. Aber was, wenn ich ein sicheres Bike für Ausflüge und Alltag möchte? Was, wenn sich der Einsatzzweck, die Möglichkeiten und das Potenzial besagter Bikes durch den Elektromotor verbreitert und vervielfacht haben, ja sich ein ganz neues Genre herausgebildet hat? Was, wenn nicht mehr das Bike, sondern der Mensch den Einsatzzweck definiert? Warum akzeptieren wir nicht, dass ein E-Mountainbike nie ein Mountainbike sein wird? Ist es nicht hirnrissig, die gleichen alten Maßstäbe für ein vollkommen neues Produkt anzuwenden?

Wir kennen dieses Phänomen aus der Wirtschaft: Jeder coole Milliarden-Konzern hat in den letzten Jahren Querdenker und Visionäre gesucht: „Think different! Brecht die Regeln! Erfindet die Welt von Morgen! Wir sind bereit für die Zukunft!“ Bullshit, niemand ist bereit: „In deinem Teilbereich darfst du schon ein bisschen kreativ sein, aber wage es ja nicht, das Wort deines Vorgesetzten oder die Firmenpolitik in Frage zu stellen.“ Sobald es um die wahre Lösung der Probleme geht, wird Querdenken schnell wieder gerade gebogen. Veränderung ja, aber bitte ohne Konsequenzen für Hierarchie und System. Der Tischkicker steht da, weil es zum New Work-Image und Nachhaltigkeits-Selbstbild passt. Aber wehe, es wird zu viel gespielt und zu wenig gearbeitet! Willkommen in der Welt der Teilzeit-Querdenker!

In dieser Denkblase pendelt sich oft auch die E-Mountainbike-Entwicklung ein. Fast jeder orientiert sich an den Konventionen und Werten der Mountainbikes und erschafft deshalb Werbekampagnen und Bikes, die eine Antwort auf die Fragen von gestern liefern statt die Bedürfnisse der neuen E-Mountainbike-Generation aufzugreifen. Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion um E-MTB-Rennen, die neu geboren werden sollen – und wenn es per Kaiserschnitt ist. Auf Teufel komm raus wird hier nach einem Format gesucht, doch keines gefunden; wobei mehr Probleme entstehen als gelöst werden. Natürlich interessieren sich Profi-Racer – vornehmlich im (Vor-)Ruhestand – für Racing, die große Mehrheit der E-Mountainbiker jedoch nicht – wie unsere jüngste Leserumfrage mit über 10.000 Teilnehmern zeigt. Nur weil der Mountainbike-Sport immer Renndisziplinen besitzt, über die er sich definiert, heißt das noch lange nicht, dass auch E-Mountainbiken eine Renndisziplin braucht.

Auch bei der Bike-Entwicklung trifft dieses Phänomen den Nagel auf den Kopf: Betrachten wir die Geschichte der E-Mountainbikes, dann wird deutlich: Anfangs handelte es sich um sperrige Mountainbikes, an die ein Motor dran geklatscht wurde. Dann um immer mehr integrierte E-Bike-Lösungen, die unbedingt Mountainbikes sein wollten. Und jetzt? Aktuell differenziert sich der Markt aus. Einerseits mit leichten Mountainbike-Konzepten wie dem Lapierre eZesty, andererseits mit stärker motorisierten Bikes wie die der Haibike FLYON-Serie und leistungsstarkem TQ-Motor, die einige Industrie-Stimmen als „die ersten echten E-Mountainbikes“ bezeichnen. Ist ein Gewicht von knapp 30 kg für ein E-Mountainbike ein No-Go? Ganz ehrlich: Wir wissen es nicht! Aber der Markt wird die Antwort liefern. Dass SUV-E-Mountainbikes gerade ein großes Ding werden, hat sich bereits letztes Jahr abgezeichnet. Fakt ist: Während der Mountainbiker vorurteilt und dagegen wettert, probiert der E-Mountainbiker die neue Technologie unvoreingenommen aus. Achtung Spielverderber-Info: Wir haben es schon ausprobiert und sind ziemlich begeistert – den Test lest in unserem großen Vergleichstest: Was ist das beste E-Mountainbike 2019?

Es ist schade, wenn man mit einem E-Mountainbike nur das macht, was man mit seinem Mountainbike früher gemacht hat. Das ist in etwa so, wie wenn man mit einem iPhone nur telefoniert, weil man das früher mit seinem Nokia 3310 schon immer so gemacht hat. Na gut, wenn’s sein muss, schreibt man vielleicht mal noch eine SMS.

Das Problem ist klar: Veränderung. Kaum einer möchte sich verändern. Die Komfortzone ist so komfortabel. Doch wer die Zukunft mitgestalten oder zumindest verstehen will, muss loslassen können: Nicht nur die Vergangenheit, sondern vor allem die überkommenen Überzeugungen und (Un-)Wahrheiten eben dieser Vergangenheit. Nur mit einem offenen Geist kann man das Potenzial der E-Mountainbikes erkennen und auch genießen. Doch genau hier liegt die Wurzel des besagten Problems: die Angst. Man muss das sichere Ufer verlassen, bereit sein, vielleicht auch mal zu scheitern und sich dem Chaos des noch immer ungeordneten Marktes hingeben können. Sogar in der Art und Weise, wie wir Tofu-Würstchen, Seitan-Steak und Wiener Veggie-Schnitzel bezeichnen, erkennt man unsere Angst davor, auf etwas verzichten zu müssen, etwas zu verpassen, nicht mehr zur Community der Sonntagsgriller dazuzugehören. Deshalb benennen wir Nicht-Fleisch mit Fleischnamen, um unseren Geist mit einem Ersatz – man könnte auch Lüge sagen – zu beruhigen.

Dabei ist die Lösung so einfach. Wir brauchen nicht in die große Glaskugel starren und auf eine ferne Zukunft wetten. Wir haben bereits alles, was wir brauchen: nämlich tausende von E-Mountainbikern – euch, die treuen Leser, jeder einzelne mit einer eigenen bewegenden Geschichte und eigenen Wunschvorstellungen. Wenn die Industrie aufhört, einem Phantom-Ideal hinterherzurennen, das von zu viel Mountainbike-Erfahrung im Blut befeuert wird, und sich stattdessen darauf besinnt, was ihr wirklich wollt, dann erschaffen wir im Hier und Jetzt die beste Zukunft – nämlich eine gemeinsame Zukunft.

Konkret heißt das: Aktuell führt fast kein Bike-Hersteller Marktstudien und -analysen durch. Die Bike-Entwicklung und -Trends nehmen meist die Ingenieure in die Hand, die das technisch Mögliche ausreizen und vor allem „geile Produkte, die sie selbst fahren würden“ bauen wollen. Doch statt „Können wir das tun?“ sollte man viel eher fragen: „Sollen wir das tun?“. Höchste Zeit also, die Rolle der Marketing-Abteilungen zu überdenken, die aktuell meist „nur“ dafür verantwortlich sind, sich Vermarktungs-Strategien für die bereits entwickelten Produkte auszuarbeiten und deren Verkauf zu unterstützen. Sollte es nicht viel eher so sein, dass aktuelle und zukünftige Marktbedürfnisse identifiziert und erforscht werden, bevor ein neues Produkt überhaupt entwickelt wird? Denn nur so kann man die realen Bedürfnisse des Marktes erfüllen. Wir dürfen die Technik nicht mit der Lösung des Problems verwechseln. Denn wer sich in den Technikdetails verliert, verliert oft den Blick fürs große Ganze.

Und wie hat der Beyond Burger jetzt geschmeckt? Ja, er hat einem Fleischpatty verdammt ähnlich geschmeckt – aber eher dem eines zu lange warm gehaltenen Burger-King-Burgers. Etwas sehr gut zu imitieren heißt noch lange nicht, dass es gut ist. Ich will nicht den Ersatz-Burger verteufeln, im Gegenteil – wenn er Menschen glücklich macht, dann ist das toll. Aber bitte hört auf, etwas Neues als Ersatzdroge für etwas Altes anzusehen. Ansonsten werden wir das volle Potenzial der E-Mountainbikes nie ergründen. Lasst uns die Ersatzprodukte vergessen und stattdessen ein Original erschaffen. Mit allem, was wir uns vorstellen können – und noch mehr! E-Mountainbiken ist nicht nur ein Sport, es ist eine Einstellung.


Dieser Artikel ist aus E-MOUNTAINBIKE Ausgabe #016

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Text: Robin Schmitt Illustration: Julian Lemme


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Über den Autor

Robin Schmitt

Robin ist einer der zwei Verlagsgründer und Visionär mit Macher-Genen. Während er jetzt – im strammen Arbeitsalltag – jede freie Sekunde auf dem Bike genießt, war er früher bei Enduro-Rennen und ein paar Downhill-Weltcups erfolgreich auf Sekundenjagd. Nebenbei praktiziert er Kung-Fu und Zen-Meditation, spielt Cello oder mit seinem Hund (der eigentlich seiner Freundin gehört!), bereist fremde Länder und testet noch immer zahlreiche Bikes selbst. Progressive Ideen, neue Projekte und große Herausforderungen – Robin liebt es, Potenziale zu entdecken und Trends auf den Grund zu gehen.