Vor uns lag die Wand. Ein schnurgerader grasbewachsener Trail auf einem imposant steilen Uphill. Viele Male hatten wir die Wand schon betrachtet. Und uns jedes Mal gefragt, welche geheimnisvollen Trails wohl dahinter liegen würden. Doch hatten wir bisher nie die Energie besessen, uns mit der enormen Steigung anzulegen. Dieses Mal würde es anders sein. Wir waren auf E-Mountainbikes unterwegs, wir würden die Wand erobern. Dachten wir jedenfalls.

Wer kennt sie nicht, die lästigen Memes mit abgedroschenen Sprüchen wie „Die schönste Aussicht kommt nach dem härtesten Anstieg“, „Nur wer riskiert, zu weit zu gehen, findet raus, wie weit man gehen kann“, oder mein persönlicher Favorit: „Nicht alle Klassenzimmer haben vier Wände“. Aber Hand aufs Herz, habt ihr euch auch schon mal gefragt, was hinter dem Horizont liegt? Habt ihr den unablässigen Entdeckerdrang verspürt? Den Ruf der Sirenen leise im Wind gehört?

Die Wand. Unzählige Male hatten wir an dieser Stelle angehalten. Jedes Mal hatten wir versucht, nicht weiter darüber nachzudenken, wohin der Pfad vor unseren Augen führen würde, dessen weiteren Verlauf wir nur als dünne Linie auf einer Karte kannten. Die noch nicht gefahrene jungfräuliche Strecke lockte uns dabei immer mit sanfter Stimme, doch unsere Gehirne entgegneten: „Zu weit, zu steil, lohnt sich nicht, da verfahrt ihr euch bloß“. Immer wieder verspürten wir diese Sehnsucht, und jedes Mal wendeten wir uns feige ab, beschlossen, uns wie Erwachsene zu benehmen, und stürzten uns in die andere Richtung, auf den „Lone Wolf“-Trail, der nicht weniger furchteinflößend ist, als es sein Name verspricht.

Das ist mein Land, das ist mein Tal, aber jenseits der „Wand“ gibt es einen Ort, an dem ich noch nie war, einen Teil meines Königreichs, der immer im Schatten liegt.

Aber nicht heute, heute würde es anders sein. Auch diesmal würde die Wand rufen, aber wir würden antworten. Die Wettervorhersage war durchwachsen, wir hatten Zeit, es war der richtige Augenblick für ein Abenteuer. Wir würden es aufnehmen mit allem, was da kommen möge. Wir hatten keine Ahnung, ob wir fahrbares Terrain vorfinden würden. Alles, was wir hatten, war diese dünne Linie auf der Landkarte und eine gesunde Portion Begeisterung und Offenheit für alles: Es könnte das absolute Trail-Nirvana sein, aber genauso wahrscheinlich würde es eine jener Ausfahrten werden, die erst 6 Monate später beim Bier in der Kneipe lustig sind, wenn man darüber lachen kann, weil man sich endlich verziehen hat.

Wir waren angemessen ausgestattet mit unseren zwei Canyon Spectral:ON E-Mountainbikes. Die Akkus waren voll, unsere Mägen auch: Ein gutes schottisches Frühstück (kräftiges Porridge und noch kräftigerer Kaffee) als Basis für den Ride. Nichts würde uns aufhalten. Ohne ein weiteres Wort klickten wir in die Pedale ein und machten uns auf, in Richtung des imposanten Hangs.

Das ist vielleicht der Punkt, an dem ihr damit rechnet, das übliche Mantra zu lesen: „ … doch mit unseren E-Mountainbikes waren wir plötzlich unaufhaltsam“. Das Happy End im Märchen, der Sieg der modernen Technik. Doch weit gefehlt. Nur 5 Minuten nach unserem Aufbruch krümmten wir uns schiebend und fluchend über unsere Bikes. Die Wand war zu steil, selbst für unsere E-Mountainbikes. Doch die Würfel waren längst gefallen, wir hatten uns entschieden, es gab kein Zurück, es gab nur Weiterschieben. Wir quälten uns also im „Walk-Modus“, bis schließlich die Steigung nachließ, und endlich konnte der Boost-Modus den Untergrund greifen und uns nach oben ins Unbekannte befördern. Wir kämpften zwar noch immer um jedes bisschen Traktion, doch wir kamen langsam voran, wie Schiffe in stürmischer See. Als wir schließlich oben waren, verbuchten wir den Kampf gegen den Hang mental unter „abhaken“ und heizten drauf los.

Die nächsten zwei Stunden entdeckten wir eine bislang versteckte Seite dieser Gegend, deren Terrain wir glaubten, gut zu kennen: wunderschöne, lange Trails, hier und da unterbrochen von Marschland und Moor, das von uns einiges an Können und einen ausgeprägten Sinn für Humor abverlangte. Es war eine charakterbildende Erfahrung, die wir – zugegeben – ohne die Motoren nicht hätten machen können. Eine aufregende Mischung aus großartigen Trails, Schiebe- und Tragepassagen und einem fiesen, verdammt langen Hang.

Etwas wirklich zu entdecken, ist heute nicht einfach. Wir leben in einer Zeit, in der Fußstapfen immer auf früheren Fußstapfen landen. Doch man muss nicht in die entlegensten Winkel der Erde fliegen, nach dem Prinzip „Russisches Roulette“ essen und aus irgendwelchen Straßengräben trinken, um ein Entdecker zu sein. Manchmal liegt etwas wahrhaft Erstaunliches schon hinter dem nächsten Berg. Würden wir diese Runde noch einmal fahren? Nein, vermutlich nicht. Hatten wir Spaß dabei, das herauszufinden? Und wie!

Von nun an müssen wir, wenn wir zu dieser Stelle vor der Wand gelangen und den leisen Ruf der Sirenen vernehmen, nicht mehr beschämt unsere Augen abwenden. Nun können wir stolz nach oben blicken und sagen „Dich habe ich schon bezwungen“. Dies ist mein Land, dies ist mein Tal. Ich war hier schon überall.


Dieser Artikel ist aus E-MOUNTAINBIKE Ausgabe #017

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