Ist innovativer wirklich besser? Oder schlägt eine gut gemachte Evolution nicht oft eine riskante Revolution? Wir waren bei Canyon Bicycles in Koblenz und haben mit dem Entwicklungsteam über die Entstehung des neuen Spectral:ON CF sowie die Herausforderungen als Direktversender gesprochen.
Rückblick: Volle Messehallen, dichtes Gedränge in den Gängen und überall neue, perfekt in Szene gesetzte Bikes. Die EUROBIKE 2014 ist im vollen Gange und eines der größten Highlights der Messe ist das Connected Bike am Stand von Canyon. Gemeinsam mit der Deutschen Telekom hat der deutsche Direktversender ein Rennrad mit Sim-Karte, automatischer Sturzerkennung, Tracking-Funktion und jeder Menge weiteren super innovativen Features vorgestellt.
Canyon versteht es wie kaum ein anderer, Innovationen zu erkennen, in Serie haben es aber das Connected Bike oder auch grundlegende Features des Bikes bis heute noch nicht gebracht. Und das hat einen Grund, wie uns der Director der E-Performance- Gruppe Philipp Klein und Produktmanager Sebastian Opalla sowie der Ingenieur Patrick Schmidt als auch Designer Christian Parmenter bei unserem Besuch in Koblenz erklären. Die vier Mitarbeiter der E-Performance-Unit haben uns außerdem die größten Besonderheiten, Highlights und Herausforderungen bei der Entwicklung des Canyon Spectral:ON verraten.
Im direkten Kontakt – Das Vertriebskonzept von Canyon
Dass Canyon seine Räder direkt an seine Kunden liefert, sich dadurch den Fahrradhändler als Mittelsmann spart und so eine erstklassige Preis-Leistung in Sachen Ausstattung und Technologien anbieten kann, ist mittlerweile wohl jedem Biker bewusst. Was aber vielleicht nur wenige wissen, ist, dass dieses Vertriebskonzept auch die Entwicklung, Montage und Komponenten der Bikes stark beeinflusst. Denn neben der Fahr-Performance eines Rades spielt für die Zufriedenheit der Kunden die gesamte Erfahrung mit dem Produkt und natürlich auch der Service eine entscheidende Rolle.
Während eine klassische Fachhandels-Marke immer den lokalen Händler als Mittelsmann nutzt, der das Fahrrad final montieren und kleinere Probleme direkt abfedern und Stimmungen beschwichtigen kann, wendet sich bei Canyon der Kunde direkt an den Hersteller. Funktioniert die Schaltung ab Werk nicht richtig, folgt eine E-Mail, gibt es ein Problem mit defekten Lagern, klingelt das Telefon. Das ist im Worst-Case nicht nur richtig schlecht fürs Image und damit für die Verkaufszahlen neuer Bikes, sondern kostet auch direkt Geld – schließlich müssen so mehr Service-Mitarbeiter bezahlt werden. Das Letzte, woran Canyon also interessiert ist, sind unzufriedene Kunden. Aus diesem Grund werden alle neuen Räder von einem ausgebildeten Zweiradmechaniker gecheckt und eingestellt, bevor sie verpackt werden. Mithilfe eines netzwerkfähigen Drehmomentschlüssels werden alle Schrauben angezogen und die Anzugsmomente digital dokumentiert. Jeder eigene Carbon-Lenker wird zu 100 % von einem CT-Scanner gecheckt – ein großer Aufwand, den Canyon aber nicht zuletzt aufgrund der Kundensicherheit gern auf sich nimmt, wie sie uns sagen.
Bei unserem Besuch räumt das Team ganz offen ein, beim Thema Service und auch Verfügbarkeit in der Vergangenheit nicht immer optimal gehandelt zu haben #SAPGATE. Mittlerweile laufen nach eigenen Angaben aber alle Prozesse wieder wie geplant und die Räder gehen optimal vormontiert und pünktlich an den Kunden.
Das Bike einfach mal verpacken – Mit dem E-MTB gar nicht so einfach
Jedes Canyon E-Mountainbike wird im speziellen E-Bikeguard-Karton geliefert. Aus ihm lässt es sich schnell und einfach entnehmen und ist innerhalb weniger Handgriffe einsatzbereit. Das Letzte, was man als Kunde aber will, ist das Rad wieder in den Karton zu verpacken. Da sich Defekte aber nie zu 100 % ausschließen lassen, kooperiert Canyon nicht nur vermehrt mit lokalen Bike-Shops, sondern hat sich bei der Entwicklung des neuen Spectral:ON auch bewusst gegen eine eigene Akku-Lösung oder die Kombination aus einem Motor mit dem Akku eines anderen Drittherstellers entschieden. Stattdessen setzt der Direktversender auf ein Komplettsystem von Shimano. So sind nicht nur im Falle eines Defekts alle Zuständigkeiten direkt geklärt, der Hersteller hat darüber hinaus auch ein riesiges Netz an qualifizierten Service-Centern. Im Falle eines Falles soll man als Kunde bei einem Problem mit dem Motor, Akku oder Display direkt und unkompliziert darauf zurückgreifen können und den Fehler so lokal auslesen und beheben lassen statt das Bike aufwändig im Karton zu verpacken. In diesem Sinne sind für Philipp Faktoren wie das Service-Netzwerk und die Ersatzteilbeschaffung genauso wichtig wie die Hardfacts des Motors.
Democratized Performance – Beste Fahreigenschaften zum besten Preis
Die beste Fahr-Performance zum besten Preis zu realisieren – das ist seit der Firmengründung die Prämisse von Canyon. Das bedeutet aber nicht, möglichst günstige Bikes zu bauen. Bei der Entwicklung sucht Canyon so immer die Balance im Bestreben, das beste Rad für einen Einsatzzweck zu bauen und gleichzeitig auf unnötige Kostentreiber zu verzichten. Mit diesem Mindset wurde auch das neue Spectral:ON entwickelt. Es ist als ein E-Mountainbike für anspruchsvolle Trail-Rider konzipiert und verfügt, anders als sein Vorgänger, über einen Carbon-Rahmen. Im Vergleich zum bisherigen Modell spricht Canyon selbst von einer Evolution statt einer grundlegenden Revolution. So wurde die Geometrie im Detail überarbeitet, um die Klettereigenschaften zu verbessern. Die Kinematik des Fahrwerks wurde so optimiert, dass der Federweg noch effektiver genutzt werden kann. Alle Details dazu und wie sich das Rad fährt, findet ihr in unserem ersten Test des neuen Spectrail:ON CF.
Die Details machen den Unterschied
Oft haben kleine Details eine große Wirkung. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist der speziell entwickelte Sattel, den Canyon beim ersten Spectral:ON präsentiert hat. Mit seinem hochgezogenen Heck bietet er viel Gegenhalt bei steilen Uphills und verbessert so die Klettereigenschaften des Bikes deutlich. Beim neuen Spectral:ON geht Canyon jetzt noch einen Schritt weiter. Denn auch wenn die Koblenzer auf ein Komplettsystem beim Motor setzen, bedeutet das nicht, dass das Rad nicht doch voll und ganz auf den Einsatzzweck abgestimmt sein kann. Wie uns Christian erklärt, fängt das beim schlüssigen Design des Rahmens an, für den alle Proportionen auf das größere Volumen eines E-Mountainbikes mit integriertem Akku angepasst wurden, und wird bei Ausstattungsdetails fortgesetzt. Insgesamt 21 eigens entwickelte Bauteile finden sich am neuen Spectral:ON. So besitzt das neue Bike eine super schicke einteilige Lenker-Vorbau-Kombination mit integrierter Kabelführung und Display-Halterung, ein Akku-Cover in Rahmenfarbe, extra Griffe mit kompakter Schelle für mehr Platz aufgrund der vielen Verstellhebel und einen kleinen selbst designten Inbusschlüssel für den Schlüsselbund, mit dem der Akku entnommen werden kann. Die Liste lässt sich noch weiter fortsetzen, z. B. mit einem selbst entwickelten Kettenblatt, einer extra Kettenführung oder der integrierten USB-C-Buchse, um das Smartphone direkt am Akku zu laden.
Unser Besuch in Koblenz hat uns gezeigt, wie komplex es ist, die Balance zwischen Performance, Preis, Zuverlässigkeit und optimalem Kundenservice zu realisieren und dass sich die Qualität eines Bikes nicht mit einem Blick aufs Datenblatt ablesen lässt. Was nützt einem das beste Produkt, wenn es im Anschluss öfter in der Werkstatt steht, als auf dem Trail bewegt zu werden? Diese Balance will Canyon mit dem neuen Spectral:ON und dem bewährten Shimano-Antriebskonzept jetzt optimal gelöst haben – ob das Ganze auch aufgeht, lest ihr in unserem ausführlichen Test.
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